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Andrea Nahles auf einer Wahlkampfveranstaltung in Saarbrücken.

© REUTERS/Ralph Orlowski

Wer sieht die rote Karte?: Die SPD ist nervös – und diskutiert über Posten

Parteichefin Andrea Nahles muss nach Europa- und Bremenwahl umbauen. In der Fraktion wünschen einige ihren Abschied. Die Personaldebatte ist in vollem Gang.

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Andrea Nahles hat in ihren 13 Monaten als SPD-Vorsitzende schon manche Schlacht schlagen müssen. Dafür, was ihr nun drohen könnte, ist sie nach außen hin gelassen, scherzt – und scheint zu glauben, dass es anders kommt, als viele denken. Mindestens einen Kabinettsposten muss sie bald neu besetzen – und wenn es ganz schlecht läuft, dann geht es auch um sie selbst.

Nach dem Koalitionsausschuss feiert sie am Mittwoch die von ihr errungenen Zugeständnisse der Union, die der Ausbeutung von Paketzustellern einen Riegel vorschieben sollen. „Paketdienste, die auf Subunternehmen setzen, müssen für deren Gesetzesverstöße haften. Das gibt den Zustellenden deutlich mehr Sicherheit“, betont Nahles. Großhändler wie Amazon sollen sich nicht mehr rausreden können, wenn Sozialbeiträge nicht gezahlt werden. Dafür, dass sie Juniorpartner in der Koalition ist, holt die SPD weiter viel raus – das fing schon mit dem roten Anstrich des Koalitionsvertrags an.

Doch das Herz für Paketzusteller ist ein kleines Thema, daneben eint Nahles mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die große Sorge, dass außenpolitisch die Lage außer Kontrolle geraten und die Krise zwischen USA und Iran zum Flächenbrand eskalieren könnte. Die Bundesregierung versucht über alle Kanäle auf den Iran einzuwirken, um ein zweites Syrien und mögliche neue Flüchtlingsbewegungen nach Europa zu vermeiden.

Die FDP fordert bereits, dass umgehend die Grenzschutzagentur Frontex zu einer echten europäischen Grenzschutzbehörde mit eigenen Handlungsbefugnissen und Personal ausgebaut werden müsse, um vorbereitet zu sein. Die Lage ist ernst – aber sie ist es auch in der Partei, mal wieder. Aber ausgerechnet die Zuspitzung im Nahen Osten könnte auch disziplinierend wirken.

Bislang keine große SPD-Schützenhilfe für Europas Sozialdemokraten

Viel ist gerade von „Kassandra“-Rufen die Rede – besonders Olaf Scholz warnt vor jenen Schwarz- und Falschsehern, mit Blick auf die allgemeine Lage, den Bundeshaushalt und die Partei. Falsch, so hofft man in der SPD-Spitze, sollen all die Untergangsszenarien für die SPD an jenem 26. Mai sein. Aufmerksam wird registriert, wie die Sozialdemokraten zumindest in einigen anderen EU-Ländern Boden gut machen. Und neuer EU-Kommissionspräsident am Ende vielleicht der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans statt des Bayern Manfred Weber werden könnte.

Allerdings kann er bisher nicht auf große Schützenhilfe aus Deutschland hoffen. Katarina Barley opfert sich als nationale Spitzenkandidatin im Wahlkampf auf – Timmermans ist der europäische Spitzenkandidat –, die zündende Botschaft hat sie aber nicht.

In einem Werbespot sitzt sie gemeinsam mit Scholz in einem Café, das ordentlich Steuern zahlt, während die US-Kette nebenan mit Tricks Steuern vermeide. Globale Mindestbesteuerung jetzt, lautet die SPD-Forderung. Für viele eine recht utopische Forderung, aber Scholz glaubt fest daran, bis spätestens 2020 eine Vereinbarung mindestens auf der Ebene der 36 OECD-Staaten, also auch mit den USA, zu finden.

Auf Plakaten lächelt Barley im Europa-Pulli und auf Selfies mit normalen Bürgern, dazu der Slogan „Europa ist die Antwort“: Was aber ist die Antwort der Sozialdemokraten, wenn sie bei 16 Prozent am 26. Mai landen, wie Umfragen sagen? Und noch dazu, wenn sie erstmals Bremen, die rote Hochburg, verlieren sollten, gegen einen recht eigenwilligen CDU-Herausforderer Carsten Meyer-Heder? Es spricht für das Siechtum dieser einst großen Volkspartei, dass zumindest Parteichefin Nahles und Scholz dann offenbar am liebsten einfach so weitermachen würden.

Nachfolgerin für Barley im Justizministerium gesucht

Klar ist nur, dass es nach dem Wahltag eine neue Justizministerin braucht, da Barley nach Brüssel in das Europaparlament wechseln wird. Wer könnte ihr nachfolgen? Gesucht wird eine weibliche Juristin. Die rheinland-pfälzischen Bildungsministerin Stefanie Hubig, die schon Staatssekretärin im Justizministerium war, hat abgewunken. Nancy Faeser, die designierte Landeschefin der Hessen-SPD, soll im Spiel sein.

Auch Eva Högl, Vizechefin der Bundestagsfraktion, ist Juristin. Aber ihr Landesverband Berlin ist im Kabinett schon mit Franziska Giffey vertreten. Freilich meinen manche Genossen, einen Luxus wie den Länderproporz könne sich die Partei in der Krise nicht mehr leisten. Auch die derzeitige Staatssekretärin und frühere Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz wird genannt. Sie kann aber keine Parteikarriere vorweisen.

Familienministerin Giffey war 2018 die Überraschung im Personaltableau der SPD. Sie ist nah bei den Menschen und profitiert von ihrer Zeit als Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln. Längst wird sie auch als Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin gehandelt, um die SPD in der Hauptstadt an der Macht halten zu können. Das Gesamtbild aber, das sich die Plagiatsprüfer der Plattform Vroniplag Wiki von Giffeys Doktorarbeit gemacht haben, sieht für die SPD-Hoffnungsträgerin nicht gut aus. Seit Bekanntwerden der Vorwürfe kamen etliche Belege für Plagiate hinzu, 119 auf 205 Seiten sind es.

Der Titel von Giffeys Doktorarbeit an der FU Berlin lautet: „Europas Weg zum Bürger - Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft.“ Die Prüfung kann noch Monate dauern, aber bei einem Entzug des Doktortitels würde sie unter massiven Druck geraten, die Konsequenz zu ziehen und zurückzutreten. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer erinnerte am Wochenende mit beißender Genauigkeit daran, dass die SPD in den Plagiatsfällen Karl-Theodor von Guttenberg (CSU) und Annette Schavan (CDU) harte Maßstäbe angelegt hatte. Sie gehe davon aus, „dass die SPD an ihre eigene Ministerin die gleichen Maßstäbe anlegt, die sie an die Unionsminister angelegt hat“, mahnte die Parteichefin.

Andrea Nahles werden schlechte Umfragewerte angelastet

Während Scholz und Nahles zur Ruhe mahnen, wächst bei anderen die Nervosität. Sie fürchten das langsame Implodieren der Partei. Der frühere SPD-Chef Martin Schulz macht einen eigenen Europa-Wahlkampf, Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat seine Meinung zum Auftreten und zum ökonomischen Sachverstand von Andrea Nahles kundgetan, der ebenfalls ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel glänzt mit eigenen Reformvorschlägen für eine Rettung der sozialen Marktwirtschaft.

Im Hintergrund scheint Vize-Fraktionschef Achim Post seine Chancen für den Fall von Wahlniederlagen am 26. Mai zu sondieren. Manche in der SPD erwarten, Nahles könne dann den Fraktionschefposten abgeben, um ein Zeichen der Einsicht und des Neuanfangs zu setzen. In ihrer Umgebung aber werden solche Spekulationen als abwegig bezeichnet. Zumal Post in einer Fraktion, in der die Parlamentarische Linke (PL) sehr stark ist, kaum durchzusetzen wäre.

Die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende hat zuletzt nicht die Kraft gefunden, dem Kollektivierungsansinnen von Juso-Chef Kevin Kühnert Einhalt zu bieten – der wirtschaftsliberale Flügel reagierte fassungslos. Und in Umfragen ging es danach eher bergab. Hat die SPD-Spitze noch das Ohr am Puls der Zeit? Sie sucht im Ruck nach links ihr Heil. Nahles hat es dabei geschafft, die seit Gerhard Schröder schwelende Hartz-IV-Debatte durch ein Sozialstaatskonzept zu befrieden. Aber ob es je kommen wird und finanzierbar ist, steht auf einem anderen Blatt.

Aber angelastet wird ihr besonders das Auftreten und die miesen Umfragen. Eine Bundestagsabgeordnete steht stellvertretend für nicht wenige in der Fraktion, wenn sie sagt: „Mit der geht es nicht weiter.“ Von Abwehrreaktionen auf Nahles in den Wahlkreisen wird berichtet. Doch wie schon bei den Krisen zuvor, ist ihr größter Verbündeter die Alternativlosigkeit: Es scheint niemanden zu geben, der sich als überzeugende Alternative aufdrängt.

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