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Söhne Abrahams. Der Muslim Jani Rashid und der in Berlin geborene Jude Rudi Leavor kümmern sich in Bradford gemeinsam um die Synagoge.

© Deike Diening

Muslime und Juden: Schalom Aleikum - das Wunder von Bradford

Jeder Knall in Nahost hat in Bradford einst ein Echo gefunden. Und dann das. Erst retten Muslime die letzte Synagoge der englischen Stadt. Und dann wählt die jüdische Gemeinde einen von ihnen in ihren ständigen Rat. Ein Wunder – und es begann mit einem Curry-Restaurant.

Ach, sagt Rudi Leavor, ein fragiler Mensch im Trench, der seinen leuchtend gelben Wagen am Flughafen Leeds rückwärts aus der Parklücke zirkelt, nie hätten sie gedacht, dass die Welt ihr Handeln jetzt als Wunder feiert. So wirke es nur, wenn man die Sache rückwärts betrachte. Vom erstaunlichen Ergebnis her. Aus seiner aber, der Perspektive des Vorstands der jüdischen Gemeinde Bradfords, habe sich alles vollkommen natürlich ergeben.

Anfang dieses Jahres wurde gemeldet, ein Muslim sei – vermutlich weltweit einmalig – in den ständigen Rat der Synagoge von Bradford gewählt worden. Schnell stand fest: Es handelt sich um die überhaupt letzte jüdische Synagoge der letzten jüdischen Gemeinde der Stadt. Es würde sie heute gar nicht mehr geben, wenn nicht ausgerechnet die Muslime aus der Nachbarschaft sie mit ihrem Geld und ihren Ideen vor dem Verkauf gerettet hätten. Wie konnte das passieren?

Ausgerechnet in Bradford, der Stadt mit dem zweithöchsten muslimischen Bevölkerungsanteil in ganz England. Von 522 000 Einwohnern sind 129 000 Muslime und keine 300 Juden. Jeder Knall in Nahost hat sein Echo auch in West Yorkshire. Einerseits versuchte der Parlamentarier und bekannte Israel-Verächter George Galloway, die Stadt zur Israel-freien Zone zu erklären. Andererseits wächst die Islamophobie seit 2005, nachdem sich in London vier Selbstmordattentäter im öffentlichen Nahverkehr in die Luft gesprengt hatten. Die Leute, die seitdem Turbanträgern ins Gesicht spucken, unterscheiden nicht zwischen Muslimen und Sikhs: Wer Turban trägt, ähnelt Osama bin Laden.

Ausgerechnet hier sprangen sie über den riesengroßen Schatten der Religionskriege, die gerade die Welt gründlicher spalten als jeder andere Konflikt. Und Rudi Leavor sprang zuerst.

Juden und Muslime haben ähnliche Interessen

Als eines regnerischen Abends die Klingel ging an seinem Haus in Bradford, erzählt Rudi Leavor, linste er durch den Türspalt hinaus. „Die Kette hatte ich nicht abgenommen.“ Er nahm die Kette niemals ab unter solchen Umständen. Ein ihm unbekannter Asiate stand draußen im Dunkel und stellte sich als Manager des Curry-Restaurants in der Nähe seiner Synagoge vor, des „Sweet Centre“, wo auch Leavor häufig aß. Man habe, sagte der Mann, vielleicht gemeinsame Interessen. Hier seien die Pläne eines Konkurrenten, ein weiteres Curry-Restaurant mit Veranstaltungszentrum direkt neben der Synagoge zu eröffnen. Pakistani und Inder, so malte er aus, würden dort in Zukunft bei ihren Hochzeiten sogar Raketen abfeuern! Dieser Lärmpegel sei doch der Würde der angrenzenden Synagoge nicht angemessen, oder?

Seit Jahrzehnten sind Juden und Muslime auf der ganzen Welt gefesselt vom Krieg im Nahen Osten. Den Blick gebannt in Richtung Israel und Gaza gewandt, können sie sich kaum noch gegenseitig in die Augen gucken. Doch Rudi Leavor langte jetzt durch den schmalen Spalt, den die Kette ihm ließ, und griff nach den Papieren.

Leavors präzises, wortreiches Deutsch liegt ganz dicht unter der Oberfläche einer vollkommenen Britishness. Leavor, 78 seiner 89 Lebensjahre hat er in England verbracht, wurde in Berlin geboren. Er ging in Schmargendorf zur Schule, aber 1937, mit elf Jahren, floh er mit seinen Eltern vor den Nazis.

Leavor erzählt, wie er in den 60ern – gerade Zahnarzt geworden wie sein Vater – in der Synagoge der Reformgemeinde Bradford sein erstes Amt antrat: „Sekretär für Begräbnisse“. Ihn empfing das brummende Gemeindeleben, als sie noch viel feierten, Extra-Stühle in die Gänge stellten und das Essen, das bei ihren Festen übrig blieb, über die Straße zu „Manningham’s Car Hire“ trugen, wo die muslimischen Fahrer sich freuten – denn was koscher war, galt auch als halal.

In Bradford waren sie stärker als der Nahostkonflikt

Söhne Abrahams. Der Muslim Jani Rashid und der in Berlin geborene Jude Rudi Leavor kümmern sich in Bradford gemeinsam um die Synagoge.
Söhne Abrahams. Der Muslim Jani Rashid und der in Berlin geborene Jude Rudi Leavor kümmern sich in Bradford gemeinsam um die Synagoge.

© Deike Diening

Die Synagoge in der Bowland Street liegt 2015 in einer postindustriellen Gegend mit vergatterten Gewerbegeländen und einer alten, weitgehend verlassenen Textilfabrik. Eine säkulare Gegend mit sehr weltlichen Problemen, mitten im muslimischen Einwanderergebiet. Im Paradies ist vor allem, wer einen Reifen wechseln lassen will.

Man müsse sich die Gemeinde als alternd und schrumpfend vorstellen, sagt Leavor. Die 40 Mitglieder leben verstreut um Bradford herum. Wenn einmal im Monat und zu den hohen Festen ein Rabbi vorbeikommt, wacht draußen seit Jahren der immer gleiche Polizist in Zivil. „Wegen der Sicherheit“ haben sie vor Jahren außen am Gebäude das Schild abgeschraubt.

Vielleicht ist es Leavors größtes Verdienst, dass er diese Unsichtbarkeit aufgegeben hat. Diese Art, aus der Gesellschaft zu verschwinden, um kein Ziel zu bieten. Denn nachdem Rudi Leavor zusammen mit dem Manager des „Sweet Centre“ die Eröffnung des neuen Curry-Restaurants verhindert hatte, brachte er es irgendwann über sich, die klamme Situation seiner Gemeinde zu erwähnen. Dem Restaurantmanager fiel sofort etwas ein – es gebe doch Töpfe für Nachbarschaftsprojekte. Er verwies Leavor an einen Mann in der Stadtverwaltung, der seinerzeit vor Idi Amin aus Uganda geflüchtet war. Leavor unterschrieb einen Antrag – und prompt hatte er 500 Pfund. Die Mühelosigkeit der Zusammenarbeit, die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der im Kleinen Mittel bewilligt wurden, stand in krassem Gegensatz zur Befangenheit der großen Weltreligionen untereinander. Irgendwie war damit ein Knoten geplatzt. „So kam eines zum anderen.“

„Wenn wir das früher gewusst hätten ...“

Rudi Leavor ging weiterhin im „Sweet Centre“ essen, diesem großen, über die Grenzen der Stadt hinaus berühmten, 50 Jahre alten Curry-Restaurant, das zuerst die aus Kaschmir und Pakistan kommenden Arbeiter der Textilfabrik frequentierten, aber schon bald englische Blaublüter besuchten – nur, dass man Leavor dort jetzt als den Synagogenvorstand erkennt, wenn er unter den prächtigen Lüstern Platz nimmt.

„Wenn wir das früher gewusst hätten ...“, sagt Ali Zulficar, der Besitzer.

„Wie hätte ich denn auf die Idee kommen sollen, ausgerechnet die Muslime zu fragen?“, fragt Rudi Leavor.

Man redete plötzlich miteinander und erfuhr, dass Leavor drei Kinder hat, auch Enkel, und eine Deutsch sprechende Frau aus Breslau. Und dann wurde 2013 das Dach der Synagoge marode. Die Mitglieder konnten die Reparatur nicht tragen. „Wir mussten einen Verkauf erwägen, sonst hätten sie mit ihrem persönlichen Vermögen haften müssen“, sagt Leavor. Es hätte dann keine Synagoge mehr gegeben in ganz Bradford und zum Gottesdienst hätten sie 200 Kilometer bis nach Leeds fahren müssen.

Ausgerechnet beim Freitagsgebet in seiner Moschee erzählte jemand Zulfi Karim von den Schwierigkeiten der Gemeinde. Karim ist Vizepräsident des „Council of Mosques“, des Rats der Moscheen, aber vor allem ist er Unternehmer. Seit fünf Jahren organisiert er das national bekannte „World Curry Festival“ mit internationalen Köchen, um Bradfords Ruf als „Curry-Hauptstadt“ Englands gerecht zu werden.

Karim, dessen Eltern aus Kaschmir eingewandert waren, war befremdet. Juden waren doch reich? Warum sollte er gerade ihnen spenden, während auch die muslimischen Anliegen rund um die Welt Geld brauchten? Er kannte es bislang so, dass die Juden sich selbst genügten. Sie blieben doch meist unter sich. Und welche Synagoge denn überhaupt?

Halal ist auch koscher

Zulfi Karim war über dem Halal-Metzger direkt um die Ecke der Bowland Street aufgewachsen, aber er hatte nie bemerkt, dass er dort täglich an einem Gotteshaus vorbeigelaufen war. Nun zeigte ihm Rudi Leavor die unerwartete Pracht im Innern: das außergewöhnliche maurische Dekor in dem viktorianischen Gebäude von 1880, in der stählernen Kälte selten geheizter Mauern. Der Bau beauftragt von einem, der jahrzehntelang Arbeitgeber gewesen war für die asiatischen Immigranten, die ihrerseits Bradford zur größten Wolle verarbeitenden Stadt Englands gemacht hatten. Die Kammgarne wurden in alle Welt exportiert.

„Es waren ja jüdische Händler, die die Bedingungen dafür geschaffen hatten, dass in den 60er Jahren die Einwanderer Arbeit finden konnten“, sagt Karim. Sie hatten einst einen riesigen Beitrag für die Stadt geleistet. Um die Ecke liegt „little Germany“, das ehemalige jüdische Viertel, wo die im 19. Jahrhundert aus Deutschland emigrierten Juden den Textilhandel aufgebaut hatten. Damals haben sie in die Stadt investiert, sie haben gestiftet und gebaut, Schulen und Krankenhäuser, die heute noch stehen und der Innenstadt ihr viktorianisches Gesicht geben. War die Erhaltung der Synagoge über 100 Jahre später dann nicht eine historische Verpflichtung für die Stadt?  

Aber dies war immer noch Bradford. Karim machte sich Sorgen. Was würden die Glaubensbrüder sagen? Er konnte sich als Unternehmer kein Zerwürfnis mit seiner Gemeinde leisten. Konnte er sich über die Teilung der Welt einfach hinwegsetzen? Wenn kaum, dass in Nahost wieder ein Konflikt ausbrach, hier für die Palästinenser gesammelt wurde?

In den britischen Medien wurde die Geschichte als Wunder gefeiert

Zulfi Karim ist Vize des Council of Mosques.
Zulfi Karim ist Vize des Council of Mosques.

© Deike Diening

Aber Leavor war ihm sympathisch. Karim fiel auf, dass auch der ein Migrant war. Dass er auf diese Art einer der ihren war, ein Fremder nämlich, der sich mit seiner Familie und seinem Glauben einen Platz hatte suchen müssen. Aber im Gegensatz zu ihm selbst stand Leavor nicht mehr in der Blüte seiner Jahre. Karim breitet die Arme aus – hier er selbst, Geschäftsmann auf der Höhe seiner Kraft. Dort Rudi Leavor, der berentete Zahnarzt, dem alles wegzuschwimmen drohte. Jetzt sollte ihm auch noch die Synagoge abhandenkommen, für die er sich über 50 Jahre lang eingesetzt hatte. War er nicht verpflichtet, zu helfen? Als Muslim und Mensch?

Zulfi Karim hat das drängendste Problem mit einem einzigen Anruf gelöst. Sein Vermieter, der Mann, dem heute die alte, leere Textilfabrik gehört, sagte zu, erst einmal das Dach zu retten. Das war die Nachricht, die es bis in die BBC schaffte, und der Moment, als ihnen bewusst wurde, dass sie mehr erreicht hatten, als nur ein marodes Gebäude zu retten. Ihr unwahrscheinliches Engagement, sagt Karim, habe für die offiziellen Stellen einen gewissen Zugzwang hergestellt. Die National Lottery, zuständig für Denkmalschutzprojekte, hat danach 100.000 Pfund für die Erhaltung der Synagoge zur Verfügung gestellt.

Karim gibt zu, dass seine Zweifel größer gewesen wären, hätte es sich um eine orthodoxe Gemeinde gehandelt. Mit der Reformgemeinde aber konnte er sich anfreunden. „Wir haben das hier als Nachbarschaftsproblem gesehen.“ Steht irgendwo geschrieben, dass man sich in Bradford anfeinden muss, weil sie sich in Nahost nicht einigen können? Leavor vertraute Karim den Schlüssel der Synagoge an, damit er sich kümmern konnte, wenn er im Urlaub war.

Leavor fand es irgendwann ganz natürlich, im Januar dieses Jahres einen alten Bekannten, Jani Rashid, mit der Frage zu überfallen, ob er einen Posten im ständigen Gemeinderat der Synagoge akzeptieren würde. Der begriff es als die Ehre, die es war, und sagte sofort zu.

Terror und Versöhnung

Er konnte nicht ahnen, dass der Konflikt an verschiedenen Stellen der Welt kurz darauf wieder ausbrechen würde: Radikale Muslime erschossen in Paris kritische Zeichner in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Sie nahmen Geiseln in einem jüdischen Supermarkt. Später gab es Konflikte im Nahen Osten, deren Erschütterungen auch in Bradford zu spüren waren. „Muslime in aller Welt begreifen die Behandlung der Palästinenser als Attacke auf ihren Glauben“, sagt Rashid. „Sie fühlen sich auch als asiatische Muslime betroffen.“

Welche Resonanz bekam also der Muslim Rashid auf seine Wahl in den Rat der Synagoge?

Einen einzigen kritischen Leserbrief: Rashid, hieß es darin, könne kein echter Muslim sein, wenn er ein Freund der Juden sei. Das war alles. An der Synagoge prangte nie eine einzige Schmiererei.

Rashid, der eine offizielle Bradford-Nadel am Revers trägt, ist in der Abteilung Bildung der Stadt zuständig für „Diversity“ an Schulen. Er bestellt nun mit zuckendem Schnauzer eines der sagenhaften Currys im „Sweet Centre“.

Gäbe es keine Synagoge mehr in Bradford, würde eine Säule in Rashids Weltbild fehlen. Die sechs größten Glaubensrichtungen sind schließlich Teil des Lehrplans an den Schulen: Christen, Muslime, Juden, Sikhs, Buddhisten, Hindus. Sieben- bis Neunjährige besuchen sie mit ihren Klassen. Ohne die Synagoge fehlte die Anschauung für den jüdischen Glauben.

Seine Idee: Wenn die Gemeinde ein Bildungsangebot biete, wenn sie Schülern das Haus öffnen würde, könne auch Geld fließen. Langfristig. Und so geschah es.

Vielleicht ändert die Freundschaft auch etwas - im Nahen Osten

Die Gemeinde hat jetzt mehr Unterstützer im Freundeskreis als Mitglieder. Sie haben hier das Muster der Gewalt unterbrochen, weil die Muslime geholfen haben – aber auch, weil sich zuerst der jüdische Vorstand aus der Verpuppung gelöst hat. Leavor kann das. Er ist schließlich auch, anders als viele der Geflüchteten, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder nach Berlin gefahren. Er hat seine Verwandten besucht und dem Jüdischen Museum eine Thora-Rolle vermacht.

Leavor findet, wenn die Ausläufer der Schockwellen aus dem Nahen Osten bis in ihre Gemeinden reichen – „warum sollten dann nicht andersherum auch die Lösungen aus Bradford ein Beispiel für die Welt sein?“

„Wir haben natürlich trotzdem unsere Differenzen“, gibt Zulfi Karim zu. Nicht immer ist er mit Rudi Leavor einer Meinung, schon gar nicht in Sachen Weltpolitik. Als 2014 der israelische Botschafter die Synagoge besuchte, hat Rudi Leavor auch Zulfi Karim eingeladen. Aber Karim hat abgelehnt. Er hatte zuvor als Nachbar gehandelt – jetzt mochte er nicht im Nachhinein zu einer politischen Aussage gedrängt werden.

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