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Die nachgebaute Hütte des Schriftstellers Henry David Thoreau nahe Walden Pond, davor eine Statue des Schriftstellers.

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Heute vor 178 Jahren: Es braucht nicht viel für ein erfülltes Leben

Am 4. Juli 1845 zog Henry David Thoreau in eine selbst gebaute Hütte im Wald. Dort wollte er herausfinden, was es zum Leben braucht. Sein Bericht ist auch für die neue Landlust und das zunehmende Abwandern der Menschen aus den Städten relevant. 

Eine Kolumne von Stephanie Eichler

Henry David Thoreau wollte wissen, was nötig ist, um ein erfülltes Leben zu führen. Er baute sich eine Hütte in der Natur, am Walden-See in Massachusetts, und zog am 4. Juli 1845 dort ein, heute vor 178 Jahren. Damit startete sein Selbstversuch, das Walden-Experiment. Es sollte zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage dauern.

Während dieser Zeit zog Thoreau Bohnen, fing Fische und ging jagen. Er besuchte regelmäßig seine nah gelegene Heimatstadt Concord und erhielt selbst Besuch, zum Beispiel von seiner Mutter, die Fresspakete mitbrachte. Thoreau kam zu dem Ergebnis, dass Menschen glücklicher sind, wenn sie wenig Eigentum besitzen, die Natur erkunden, lesen und nachdenken. Er hielt fest, dass nur sechs Wochen Lohnarbeit im Jahr genügen, um sich alles Lebensnotwendige zu kaufen: Messer, Spaten, Schubkarre, Lampe, Schreibzeug und Bücher.

Ein Porträt von Henry David Thoreau (1817 bis 1862).

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Thoreau hatte an der Harvard University studiert, als Lehrer gearbeitet und zusammen mit seinem Bruder eine Privatschule gegründet. Er las Jean-Jaques Rousseau und Alexander von Humboldt im Original, konnte Italienisch, Griechisch, Latein. Und der Mann schrieb selbst. Aus den Aufzeichnungen, mit denen er das Experiment begleitete, entstand ein 500 Seiten starkes Buch mit dem Titel „Walden, or Life in the Woods“ („Walden oder Leben in den Wäldern“). Zu Lebzeiten verkaufte sich das Werk nur 2000 Mal, inzwischen hat es ihn berühmt gemacht.

Für die einen ist „Walden“ vor allem das Werk eines Naturliebhabers und Philosophen, der fern von bürgerlichen Konventionen nach Sinn und Selbsterkenntnis suchte. Für die anderen ist es pure Gesellschaftskritik: Thoreau bemängelte, dass Arbeitskräfte ausgenutzt wurden. Er kritisierte die Sklaverei und wandte sich gegen die Prügelstrafe.

Zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage dauerte das Walden-Experiment.

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Thoreaus Selbstversuch und das daraus entstandene „Walden“ prägen unser Bild von Ländlichkeit bis heute: Im Gegensatz zur Stadt, die dreckig, künstlich, anonym sei, gelten die Natur und das Land als authentisch, organisch und romantisch, als Orte des besseren Lebens, „des Ausbruchs und der Flucht“, schreiben Sigrun Langner und Marc Weiland in „Die Zukunft auf dem Land“.

Dieses Bild vom Land kann aber zu Konflikten führen, wenn Städter in die Provinz ziehen. Ein Team um die Geografin Susanne Dähner vom Berlin-Institut zitiert in einer Studie Günther Noack, den Bürgermeister von Havelsee in Brandenburg, das seit vielen Jahren Berliner anzieht: „Da soll eine Straße gebaut werden. Die Zugezogenen sind dagegen, weil bei denen die Romantik im Kopf verloren geht“, so Noack.

Doch die Studie zeigt, dass das Leben auf dem Land vor allem Chancen bietet, wenn es nicht als Gegensatz zum Stadtleben verstanden wird, sondern Elemente aus der Stadt integriert, wenn beispielsweise in alten Gutshöfen Wohngemeinschaften eingerichtet werden, in verlassenen Landhäusern Gemeinschaftsbüros.

Es sind übrigens mitnichten nur die Zugezogenen, die Neuerungen anstoßen: Vor allem gründen Alteingesessene oder Rückkehrer Start-ups auf dem Land und beleben es, zeigt die Studie. Die Forschenden merken an, dass umgekehrt auch Städte davon profitieren, wenn sie ländliche Komponenten übernehmen, etwa mit „Urban Gardening“.

In gewissem Sinne zeugt auch Thoreaus letzter Lebensabschnitt von der Versöhnung von Stadt und Land: Er lebte in Concord, schrieb Texte für Zeitungen, Magazine und arbeitete in der Bleistiftfabrik seines Vaters. Am Nachmittag zog es ihn in die Natur. Er starb mit nur 44 Jahren. Seine Freunde sollen erstaunt gewesen sein, wie gelassen der an Tuberkulose Erkrankte dem Tod entgegensah. Vielleicht lag es daran, dass sein Leben so erfüllt war.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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