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Den einsamsten Baum der Welt gibt es nicht mehr: Ein LKW wurde ihm zum Verhängnis.

© imago images/Michel R. Tarrier

Heute vor 50 Jahren: Der einsamste Baum der Welt

Im Umkreis von 400 Kilometer kein Artgenosse, nur Sand und Wüste und sengende Sonne? Jahrzehntelang hielt das ein Baum in Niger aus. Bis ein Mensch...

Eine Kolumne von Sascha Karberg

Es gibt den dicksten Baum der Welt, den etwa 1500 Jahre alten und schätzungsweise 636 Tonnen schweren Árbol del Tule, eine Mexikanische Sumpfzypresse (Taxodium mucronatum), die mit etwa 14 Meter Stammdurchmesser und 46 Meter Stammumfang in Santa María del Tule in Oaxaca (Mexiko) steht.

Es gibt den ältesten Baum, die Gemeine Fichte (Picea abies) Old Tjikko, die um die 9.550 Jahre alt ist und im Nationalpark Fulufjället in der schwedischen Provinz Dalarna lebt. Wobei: Baumklonkolonien werden noch viel älter. Die Zitterpappelkolonie Pando in Utah soll 80.000, vielleicht sogar eine Million Jahre alt sein.

Es gibt den mit 115,55 Meter höchsten Baum, den „Hyperion“, ein Küstenmammutbaum (Sequoia sempervirens) im Redwood-Nationalpark in Kalifornien. Wobei der höchste je gemessene Baum der Welt mit 132,58 Meter ein australischer Rieseneukalyptus war.

Unverwüstlich

Aber der wohl einsamste Baum aller Zeiten war der Arbre du Ténéré, eine Schirmakazie der Art Acacia raddiana oder Acacia tortilus, inmitten der Wüste Ténéré in Niger. Berichten zufolge existierte im Umkreis von 400 Kilometern kein anderer Baum, weder der eigenen, noch irgendeiner anderen Spezies. Nur Wüste, Sand, kein Grün. „Man muss den Baum gesehen haben, um seine Existenz zu glauben“, schrieb der französische Offizier Michel Lesourd, der 1938/39 im damaligen Französisch-Westafrika stationiert war, im Mai 1939. „Wie kann er [...] unverwüstet bleiben?“

Offenbar hatte es der Baum, der einst zu einem Wald oder zumindest einer Baumgruppe gehört haben muss, als einziger im Laufe der Zeit geschafft, Wurzeln bis in eine Tiefe von 36 Meter auszubilden und so den Kontakt zum Grundwasserspiegel zu halten. Jahrzehntelang. Das zeigte eine Grabung im Winter 1938/39 in der Nähe des Baumes.

Den Karawanen der Gegend diente der pflanzliche Eremit als Orientierungspunkt auf ihren Routen durch den Nordosten Nigers. Im Zeitalter des Klimawandels wird sich die Geschichte des Arbre de Ténéré wohl - ob nun bemerkt oder unbemerkt - zigtausendfach wiederholen. Die steigenden Temperaturen werden mehr und mehr Regionen aufheizen und Grundwasser verschwinden lassen. Waldgebiete werden zu Savannen, und Savannen zu baumlosen Wüsten. Hier und da werden einzelne Überlebenskünstler jahrzehnte-, vielleicht jahrhundertelang einsam dem Tod widerstehen. Doch auch davor wird Mensch keinen Respekt haben. Dem Arbre de Ténéré wurde ein LKW, gefahren von einem betrunkenen Libyer, zum Verhängnis. Am 8. November 1973, heute vor 50 Jahren, wurden die Überreste ins Nationalmuseum von Niger in Niamey gebracht. In der Wüste steht jetzt, der Akazie zum Gedenken, eine baumartige Metallskulptur.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der Tagesrückspiegel-Kolumne hier.

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