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Lärm und Abgase können auf Dauer krank machen.

© IMAGO/Wolfgang Maria Weber

Perspektivwechsel: Gesundheit braucht mehr als Medizin

Beim Thema Gesundheit denken Politiker in erster Linie an Krankenhäuser, Ärzte und Krankenpfleger. Doch die Bekämpfung von Krankheiten fängt viel früher an.

Ein Kommentar von Jens Holst

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will das System der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und damit die Zuständigkeiten für die Vermeidung von Krankheiten reformieren. Dazu plant er den Umbau der Bundesinstitute unter Kontrolle seines Ministeriums.

Das Robert-Koch-Institut (RKI), seit der Corona-Pandemie bekannt als oberste Koordinierungsstelle der Gesundheitsämter, soll künftig nur noch für die Kontrolle von Infektionskrankheiten zuständig sein. Ein neues Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM), in dem die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aufgehen wird, soll für die Vermeidung chronischer Gesundheitsprobleme wie Herzkreislauferkrankungen, Krebs oder Demenz verantwortlich werden.

Bildung, Einkommen, Arbeits- und Wohnbedingungen sowie Umwelteinflüsse bestimmen in erheblichem Maße die Lebenserwartung und Erkrankungswahrscheinlichkeit. 

Jens Holst, Gesundheitswissenschaftler

Damit will der Minister einem Grundproblem des deutschen Gesundheitswesens begegnen, das sich fast ausschließlich der Behandlung von Krankheiten und kaum der Vorbeugung widmet. Darauf weisen Gesundheitswissenschaftler*innen schon seit vielen Jahren hin. Beim Thema Gesundheit denkt die Bevölkerung ebenso wie viele Politiker*innen allerdings in erster Linie an Krankenhäuser, Ärzt*innen oder Krankenpfleger*innen. Schließlich kommen die meisten Menschen dann mit dem Gesundheitswesen in Berührung, wenn sie selber oder Verwandte und Freunde krank werden. Zudem sind im Krankenversorgungssystem einflussreiche Akteur*innen engagiert und enorme Finanzmittel im Umlauf.

Immer wieder in Vergessenheit gerät die vielfach belegte gesundheitswissenschaftliche Erkenntnis, dass die Gesundheit der Bevölkerung in weit stärkerem Ausmaß von Faktoren außerhalb des Gesundheitswesens abhängt. Bildung, Einkommen, Arbeits- und Wohnbedingungen sowie Umwelteinflüsse bestimmen in erheblichem Maße die Lebenserwartung und Erkrankungswahrscheinlichkeit. Trotz umfassender sozialer Absicherung im deutschen Sozialstaat zeigen sozialepidemiologische Daten, die bisher das RKI regelmäßig liefert, dass einkommensstarke Männer durchschnittlich 11 Jahre länger leben als solche der untersten Einkommensgruppe.

Schlechte Jobs, Arbeitslosigkeit, Lärm

Die Ursachen sind vielfältig: Einkommensschwache arbeiten in schlechteren Jobs, sind stärker von krank machender Arbeitslosigkeit betroffen, wohnen beengter und in stärker umwelt- und lärmbelasteten Gebieten, haben häufiger einen Migrationshintergrund und ernähren sich ungesünder. Aber wenn zum Beispiel doppelt so viele Hauptschüler wie Gymnasist*innen rauchen, dann verbergen sich dahinter nicht nur ein Bildungsproblem, sondern auch gesellschaftliche Ursachen, die nicht allein den Einzelnen anzulasten sind und denen die beliebte Forderung nach mehr Eigenverantwortung nicht gerecht wird. Die Fähigkeit zur Eigenverantwortlichkeit ist nämlich gesellschaftlich sehr ungleich verteilt.

Die Gründung des BIPAM zur Stärkung der Prävention ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings weckt der Institutsname Zweifel, ob der Arzt und Gesundheitsökonom Lauterbach die Komplexität der Krankheitsvermeidung erkennt. Beschränkt sich das BIPAM tatsächlich auf medizinische Prävention und gesundheitliche Aufklärung, würde es wenig an den wichtigsten Ursachen von Krankheit und Tod ändern, die vielfach außerhalb des medizinischen Versorgungssystems liegen.

„Wirksame Prävention und Gesundheitsförderung muss aber insbesondere die Lebensverhältnisse und deren sozial ungleiche Verteilung verbessern“, fordert die Deutsche Gesellschaft für Public Health. Ärztliche Vorbeugung und Verhaltensänderungen sind zwar wichtig, können aber ohne gleichzeitige Bearbeitung der Verhältnisse kaum wirksam werden.

Einengung auf Biotechnologie

Die Einengung von Gesundheitspolitik auf Medizin und Biotechnologie erscheint vor allem nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie bedenklich. In Deutschland hatte es 14 Monate gedauert, bis man merkte, dass COVID-19 auch hierzulande höchst ungleich zuschlug und vor allem in ärmeren Stadtvierteln grassierte. Aber die Bundesregierung hatte sich viel zu einseitig auf Virolog*innen und Mediziner*innen um Christian Drosten und Karl Lauterbach verlassen, um dies rechtzeitig zu erkennen. So blieben einschlägige Erkenntnisse aus den USA und Großbritannien allzu lange unbeachtet, die zeigten, dass Gesundheit von mehr als der medizinischen Versorgung abhängt. Das hat bisher aber nicht zu dem erforderlichen Perspektivwechsel geführt.

Dass sich die Verkürzung von Gesundheit auf medizinische Versorgung und die Bekämpfung von Krankheiten keineswegs auf Deutschland beschränkt, sondern weltweit zu beobachten ist, belegt auch der Virchow-Preis für Globale Gesundheit, den die gleichnamige Stiftung am vergangenen Wochenende in Berlin der kamerunischen Malariaforscherin Rose Gana Fomban Leke verlieh. Die Leiterin des Biotechnologie-Zentrums der Universität Yaounde erhielt die Auszeichnung für ihre Forschung zur Überwindung der Malaria-Pandemie. Ebenso wie beim letztjährigen und ersten Virchow-Preisträger, dem ebenfalls aus Kamerun stammenden Virologen John Nkengasong, liegen die Verdienste von Professor Leke vorrangig auf dem Gebiet der Biomedizin und der Krankheitsbekämpfung - politische, ökonomische oder gesellschaftliche Bedingungen spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Virchow-Preis falsch verstanden

Dem Denken und Schaffen von Rudolph Virchow wird die Preisvergabe damit nicht gerecht. Wollte das Virchow-Komitee ernsthaft die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einflussfaktoren von globaler Gesundheit bei der Preisvergabe berücksichtigen, müsste es eine Person bzw. besser eine Organisation auszeichnen, deren Wirken sich nicht auf das Medizin- und Krankenversorgungssystem beschränkt, sondern vor allem die gesellschaftlichen Ursachen für Krankheit bearbeitet.

Die größten Gefahren für die globale Gesundheit gehen von der Klimakrise aus, die die Menschen in den armen Ländern und dort vor allem die Ärmsten besonders hart trifft, von den nach wie vor ungleichen Wirtschaftsbeziehungen, durch die ein Vielfaches dessen an Zinsen, Gewinnen und Schwarzgeld aus den einkommensschwachen Ländern abfließt, was dort als Entwicklungshilfe ankommt, und von der direkten Ausbeutung von Arbeitskräften vor allem durch transnationale Unternehmen.

Wollte die deutsche Politik globale Gesundheit ernsthaft zum Markenkern machen, müsste sie ihren Einfluss nicht nur in der Weltgesundheitsorganisation geltend machen, sondern auch in der Welthandelsorganisation, der Europäischen Union und anderen internationalen Organisationen, um für gerechtere Handelsbeziehungen, eine wirksame internationale Besteuerung oder effektiven Umweltschutz im Interesse der Menschen und nicht von Unternehmen zu kämpfen. Und im Inland die Gesundheit mit einer Zuckersteuer, Werbebeschränkungen für Süßigkeiten, dem Verbot gefährlicher Pflanzengifte oder einem allgemeinen Tempolimit fördern.

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