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Kulturelle Unterschiede als Ressource ansehen, die den Schulalltag bereichern können.

© Getty Images/FatCamera

Vielfalt im Lehrerzimmer : Lehrkräfte mit Migrationshintergrund gesucht

Fehlende Vorbilder, Hürden beim Einstieg ins Lehramt und Diskriminierung: Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte werden selten Lehrer. Damit verliert das deutsche Bildungssystem wertvolle Ressourcen.

Als Lehrerin ist sie es gewöhnt, wiederkehrende Fragen zu beantworten. Eine hört Secil Olcaytürk von den Jugendlichen, die sie begleitet, besonders oft: Lehramt studieren – kann ich das überhaupt, ich bin ja nicht deutsch? „Da gibt es viele Zweifel und Hürden, die man überwinden muss“, sagt die 53-Jährige.

Secil Olcaytürk ist Landeskoordinatorin im Berliner Netzwerk für Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Die Initiative der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie motiviert seit 13 Jahren junge Menschen dazu, Lehrer:in zu werden. „Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, für Schüler:innen mit Migrationshintergrund als Berater zu fungieren“, sagt Olcaytürk. Dafür setzen sich im Berliner Netzwerk rund 130 aktive Mitglieder ein, darunter angehende und erfahrene Lehrkräfte und Unterstützer aus Wissenschaft und Forschung – vorrangig mit Migrationshintergrund. Ähnliche Netzwerke gibt es auch in einigen anderen Bundesländern.

Ich sehe meine Funktion an der Schule immer als eine Art Brückenbauerin.

Secil Olcaytürk, Lehrerin

Das Hauptaugenmerk der Arbeit liegt darin, Interessierte an den Lehrerberuf heranzuführen, sie umfassend zu informieren und dabei zu unterstüzen, sich in den Abläufen an der Uni zurechtzufinden. Dazu gehört etwa das einjährige Mentoring-Programm „Become a teacher“ für Schüler:innen ab der zehnten Klasse. Einmal im Jahr wird auch der Zukunftscampus veranstaltet, zuletzt im März an der Freien Universität Berlin, wo man Einblicke in den Lehreralltag und praktische Tipps zu Studienbewerbungen bekommt.

Neben Projekten für Schüler:innen bietet das Netzwerk auch erfahrenen Lehrkräften die Möglichkeit, sich zu vernetzen und durch Fortbildungen weiterzuqualifizieren. „Wir sind fest davon überzeugt, dass Vielfalt nicht nur in den Klassenräumen, sondern auch in den Lehrerzimmern wichtig ist“, sagt Olcaytürk.

Vermitteln und Vorbild sein

Wie bereichernd diverse Teams sind, weiß die Lehrerin aus eigener Erfahrung. Sie hat selbst türkische Wurzeln und unterrichtet an der staatlichen Rixdorfer Grundschule in Neukölln, die als sogenannte ZwErz-Schule ein besonderes Konzept verfolgt. „ZwErz“ steht für zweisprachige Erziehung. Der Unterricht ist doppelt besetzt mit einer deutschen und etwa einer türkischen Lehrkraft, die Fächer werden den Kindern immer zweisprachig vermittelt. Noch vor 30 Jahren gab es in Berlin mehr als zwei Dutzend solche Schulen, heute sind es nur noch drei.

„Ich sehe meine Funktion an der Schule immer als eine Art Brückenbauerin“, erzählt Olcaytürk. Dabei geht es nicht bloß um sprachliche Barrieren, sondern auch um kulturelle Unterschiede. Tatsächlich zeigen Studien, dass sich Lehrkräfte mit Migrationshintergrund beim Umgang mit Vielfalt mehr zutrauen und ihre Empathiefähigkeit ausgeprägter sein kann. „Für mich ist es einfacher, bestimmte Ansichten zu verstehen“, sagt auch Olcaytürk. Wenn zum Beispiel eine Mutter ihr anvertraue, dass sie ihre Tochter nicht mit auf Klassenfahrt schicken möchte, weil sie sich Sorgen um ihre Jungfräulichkeit mache, kann die Lehrerin ihr die Ängste nehmen.

An Berliner Grundschulen ist inzwischen fast die Hälfte der Kinder nicht deutscher Herkunft.
An Berliner Grundschulen ist inzwischen fast die Hälfte der Kinder nicht deutscher Herkunft.

© picture alliance/dpa

„Viele meiner Kolleg:innen sind Vorbilder“, meint sie. Oft würden Eltern sagen: Guck mal, Frau Olcaytürk hat es geschafft, du kannst es auch. Da hilft es, dass das Kollegium bunt gemischt ist. In Rixdorf arbeiten neben türkischen auch arabische, spanische, polnische und russische Kolleg:innen zusammen. Eine ukrainische Lehrkraft betreut die Willkommensklassen. „Wir sind wirklich sehr Multikulti unterwegs“, sagt Olcaytürk. 

Hürden beim Einstieg ins Lehramt

Ein Blick auf die bundesweite Schullandschaft offenbart dagegen ein eher ernüchterndes Bild. Während in Deutschland rund 39 Prozent aller Schüler:innen einen Migrationshintergrund haben – an Berliner Grundschulen hat inzwischen sogar fast die Hälfte der Kinder keine deutsche Herkunft – sind es bei den Lehrkräften gerade einmal 13 Prozent. 

13
Prozent der Lehrkräfte in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.

Diverse Studien belegen, dass sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte seltener für einen Lehramtstudiengang entscheiden. „Das hat mehrere Gründe“, sagt Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen LehrerverbandsZum einen gelte das Lehramt nicht mehr als klassischer Aufsteigerberuf. „Bessere Chancen verspricht man sich von Studienfächern wie Technik, Jura oder Wirtschaft“, sagt er. Außerdem werde im Lehramt ein sehr hohes deutsches Sprachniveau (C2) verlangt.

Man könnte auf Nachqualifizierungen und Übergangsfristen setzen.

 Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Dennoch wünscht sich Meidinger, mehr Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte für den Lehrerberuf zu interessieren. Gleichzeitig warnt er davor, dabei vor allem auf eine Senkung der Qualitätsstandards zu setzen. „Man könnte aber für die Erreichung des verlangten Sprachniveaus auch auf Nachqualifizierungen und Übergangsfristen setzen, um Anfangshürden zu mildern“, sagt er.

Verschenkte Chancen im Kampf gegen Lehrermangel

Eine gemeinsame Untersuchung des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und der Goethe-Universität zeigte zudem, dass sich Studierende mit Migrationshintergrund im Lehramt gegenüber ihren Kommilitonen bisweilen als Außenseiter fühlten und eher dazu neigten, das Studium abzubrechen. Das ist vor allem angesichts des akuten Lehrkräftemangels fatal. Allein in Berlin rechnet Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) für das neue Schuljahr, das Ende August startet, mit einem Lehrkräftedefizit von 1460 Vollzeitstellen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Schüler:innen.

Diskriminierung hat viele Facetten. Wir sehen da noch viel Verbesserungspotenzial.

Secil Olcaytürk, Landeskoordinatorin im Berliner Netzwerk für Lehrkräfte mit Migrationshintergrund

Personen mit Migrationshintergrund wären da eine wertvolle Ressource. Doch leider führen Rassismuserfahrungen während der eigenen Schulzeit dazu, dass junge Menschen in dem Beruf nicht arbeiten wollen. Nicht selten erleben auch erfahrene Lehrkräfte mit Migrationshintergrund Diskriminierungen an Schulen, zum Beispiel aufgrund ihres Akzents. Olcaytürk berichtet von Situationen, in denen auch Benotungen oder der Unterricht von Kolleg:innen hinterfragt werden. „Diskriminierung hat viele Facetten. Da sehen wir noch viel Verbesserungspotenzial“, sagt sie. Deshalb organisiert das Netzwerk Fortbildungen unter anderem auch zu diesem Thema.

Multikulturelle Teams an freien Schulen

Wie Diversität im Lehrerzimmer gelebt werden kann, lässt sich an der freien Quinoa Schule in Wedding beobachten. Dort gehören multikulturelle Teams fest zum Konzept: Um die rund 170 Kinder aus überwiegend sozial benachteiligten Familien kümmern sich Lehrer:innen mit griechischem, tunesischem, afghanischem und türkischem Hintergrund. Mit Erfolg: Seit der Gründung 2014 haben nur fünf Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen.

Ob Privatschulen in puncto Vielfalt besser aufgestellt sind als die öffentlichen, lässt sich generell nicht sagen. Dazu liegen keine Erhebungen vor. „Klar haben freie Träger bei der Einstellung vielleicht größere Ermessensspielräume. Allerdings trifft die Privatschulen der Lehrkräftemangel vielfach noch härter als staatliche Schulen“, sagt der Lehrerverbandschef Meidinger. Momentan könne zwar nicht von einem flächendeckenden Lehrermangel an Privatschulen gesprochen werden, heißt es vom Bundesverband Deutscher Privatschulen (VDP).  Allerdings sehe man mit Sorge, dass der Staat vereinzelt versucht, Lehrer direkt von Privatschulen abzuwerben. 

Die Wiedereinführung der Verbeamtung erhöht den Druck auf die freien Schulen zusätzlich.

Sabina Bothe, Privatschulverband Berlin-Brandenburg

„Dass das Land Berlin die Verbeamtung wieder eingeführt hat, erhöht den Druck auf die freien Schulen zusätzlich“, sagt Sabina Bothe, Landesgeschäftsführerin VDP Berlin-Brandenburg. Um die Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden, setzt sich der Landesverband für Ausgleichsmaßnahmen für die Schulen in freier Trägerschaft ein, etwa durch eine Finanzierungsbeteiligung für die Lehrkräfteausbildung an freien Schulen und die verstärkte Anwerbung ausländischer Lehrkräfte. Doch auch das koste. „Wir haben gute Erfahrungen mit der Einstellung von ausländischen Lehrkräften, schlechte Erfahrungen aber mit der Übernahme der Kosten für die Deutschkurse“, sagt Bothe.

Bisher sei die Verwaltung immer sehr zurückhaltend gewesen, wenn es um ausländische Lehrkräfte geht. Doch das ändert sich offenbar: Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, dürfe es keine Denkverbote geben, sagte die Berliner Bildungssenatorin Günther-Wünsch kürzlich. Unter anderem prüfe die Verwaltung den Einsatz von Lehrkräften in nur einem Fach und eine schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse. „Das zweite Staatsexamen hat über Jahrzehnte in vielen Kultusverwaltungen den gleichen Rang wie das deutsche Abitur. Sonst hätte es längst ein Lehreraustauschprogramm beispielsweise mit der Türkei gegeben“, sagt Andreas Wegener, Vorstandsvorsitzender des VDP in Berlin.

Auch Secil Olcaytürk beobachtet gerade einen Wandel. Immer mehr junge Migrant:innen, sagt sie, wären bereit, den Lehrerberuf zu ergreifen. „Interessant ist auch, dass immer mehr Frauen an MINT-Fächern interessiert sind.“ Gemeint sind die Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. An der Berliner Technischen Universität etwa, die auch Lehrkräfte ausbildet, sei die Zahl der Anwärterinnen geringfügig gestiegen.

Mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen: Ist das ein guter Weg, um den Lehrermangel zu entschärfen? „Grundsätzlich ja“, sagt Meidinger. „Kurzfristig wird das aber nicht das Wunderheilmittel sein.“

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