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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #29: Ringen um das Gedenken

+++ Der 9. Mai: Ein Tag, zwei Gedenken +++ Zahl der Woche: 4 +++ Wie sich der „Tag des Sieges“ in der Ukraine verändert hat +++ Geschichtsrevisionisten an der Macht +++ „Lebende“ Opposition gegen Ungarns Symbolpolitik +++

Hallo aus Kiew, 

Weder ich noch meine Eltern, nicht einmal meine Großeltern, haben den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Doch von allen Konflikten, die unser Land in der Vergangenheit durchlebt hat, beeinflusst dieser Krieg unser Leben immer noch am meisten.

Wie wir uns an den Zweiten Weltkrieg erinnern, zeigt unsere Sicht auf die Geschichte sowie unsere politischen und gesellschaftlichen Werte. Wie sollen wir diesen Krieg nennen: „Zweiter Weltkrieg“ oder „Großer Vaterländischer Krieg“? War das sowjetische Regime ein Befreier oder genauso schlimm wie der Nazi-Staat?

Sollen wir das Gedenken an den Krieg begehen, indem wir den Sieg bejubeln – oder indem wir trauern angesichts all des Leids, das er verursacht hat? Diese Fragen sorgen in der Ukraine seit vielen Jahren für Debatten.

Mein Land ist offensichtlich keine Ausnahme. Das Thema Zweiter Weltkrieg löste den größten Massenprotest in der Geschichte des modernen Estlands aus, es ist der Grund für die Errichtung umstrittener Denkmäler in Ungarn und für die Erhaltung sowjetischer Gedenkstätten in Deutschland. In Italien reicht die Sympathie für einige faschistische Teilnehmer an dem blutigen Konflikt bis in die höchsten Ränge der derzeitigen Regierung.

Fast 80 Jahre nach seinem Ende stellt dieser Krieg die europäischen Gesellschaften immer noch vor Herausforderungen und Konflikte. Jetzt, wo ein neuer Krieg tobt, sind diese Debatten nochmals intensiver geworden.

Der 9. Mai ist ein Tag mit vielen Facetten, Erfahrungen und vielen unterschiedlichen Bedeutungen für die Menschen. In diesem Newsletter wollen wir einige davon beleuchten.

Anton Semischenko, dieswöchiger Chefredakteur.


Der 9. Mai: Ein Tag, zwei Gedenken

Ein umgestürztes Auto 100 Meter von meiner Schule entfernt - das hätte ich nicht für möglich gehalten, bis ich Zeuge der Ereignisse im April 2007 in Tallinn wurde.
Ein umgestürztes Auto 100 Meter von meiner Schule entfernt - das hätte ich nicht für möglich gehalten, bis ich Zeuge der Ereignisse im April 2007 in Tallinn wurde.

© Foto: Delfi Meedia

Eingeschlagene Fenster, geplünderte Geschäfte, verwüstete Straßen und eine Nation im Schockzustand. So präsentierte sich mir mein Estland am Morgen des 27. April 2007, als ich auf dem Schulweg zu meiner Staatsbürgerkundeprüfung in der Sekundarstufe war. Am Abend zuvor hatte ich wenig für das Examen gelernt, weil ich stattdessen eine ganz andere Lektion in estnischer Staatsbürgerkunde erhielt: im Fernsehen sah ich die Ausschreitungen um den sogenannten Bronzesoldaten in Tallinn (Pronksiöö).

Die damalige Regierung wollte das Denkmal für sowjetische Soldaten aus dem sogenannten Großen Vaterländischen Krieg versetzen lassen. Schon die Unterscheidung zwischen „Großem Vaterländischem Krieg“ und „Zweitem Weltkrieg“ ist in Estland bedeutend und aufgeladen. Letzterer begann schließlich im September 1939, als sowohl die Wehrmacht als auch die Rote Armee in Polen einmarschierten und jeweils die Hälfte des Landes besetzten. Der Große Vaterländische Krieg hingegen begann erst 1941, als sich die Nazis gegen ihre sowjetischen Ex-Verbündeten wandten.

Der Bronzesoldat in Tallinn wurde zu einem Konfliktpunkt, zum Symbol der tiefen Gräben zwischen zwei unterschiedlichen Geschichtsauffassungen. Nach mehrfachen Provokationen brachen im April 2007 im Zentrum Tallinns Unruhen aus. Derartige Ausschreitungen hatte es in dem friedlichen Land, das gerade der EU und der NATO beigetreten war, zuvor nicht gegeben. Ich selbst bin 1988 geboren. Für mich fühlte sich diese Nacht geradezu apokalyptisch an.

Aufgrund der Ausschreitungen von überwiegend russischsprachigen Menschen und weil am 9. Mai der nächste Jahrestag des Endes des Großen Vaterländischen Krieges bevorstand, versetzte die estnische Regierung das Denkmal noch in derselben Nacht im April 2007.

16 Jahre später versuchen die Behörden weiterhin, die Aufmerksamkeit am 9. Mai auf den Europatag zu lenken, der am selben Tag begangen wird. In diesem Jahr fand auf dem Freiheitsplatz ein kostenloses Konzert mit dem Kalush Orchestra statt, den ukrainischen Gewinnern des letztjährigen Eurovision Song Contests.

Viele Menschen kamen zu dem Konzert, um Unterstützung für die Ukraine und ein freies Europa zu zeigen. Gleichzeitig sind aber die Wunden im sozialen Gefüge Estlands nicht verheilt. Viele andere ignorierten das Konzert und legten stattdessen Blumen am Fuß des Bronzesoldaten nieder. Der Konflikt zwischen den zwei Geschichtsschreibungen schwelt somit weiter.

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.


Zahl der Woche: 4

Zahl der Woche.
Zahl der Woche.

© GIF: Karolina Uskakovych

In Berlin gibt es vier sowjetische Kriegsdenkmäler. Das größte in Treptow besteht aus einer riesigen Statue eines Soldaten und mehreren Steinsärgen mit vergoldeten Zitaten Joseph Stalins. Laut dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag über die deutsche Einheit von 1990 muss der deutsche Staat diese Kriegsdenkmäler unverändert erhalten und pflegen. In den frühen 2000er Jahren wurden daher unter anderem auch die Stalin-Zitate neu vergoldet.

Jedes Jahr im Mai kommen Menschen hierher, um dem Sieg über den Nationalsozialismus zu gedenken, darunter viele Linke, aber auch Besucher, die russische nationalistische Symbole zur Schau tragen.

Angesichts des Kriegs Russlands in der Ukraine wollte die Berliner Polizei in diesem Jahr das Hissen sowjetischer, russischer und ukrainischer Flaggen an den sowjetischen Gedenkstätten am 8. und 9. Mai verbieten. Nach einem Gerichtsentscheid wurde das Verbot für ukrainische Flaggen aufgehoben.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.


Wie sich der „Tag des Sieges“ in der Ukraine verändert hat

„Wir ehren. Wir siegen“ steht auf dieser offiziellen ukrainischen Mitteilung über das Ende des Zweiten Weltkriegs. Beachten Sie, dass sich die Jahreszahlen geändert haben. Früher waren es die Jahre 1941-1945 - die Jahre, in denen nur der sowjetisch-deutsche Krieg stattfand.
„Wir ehren. Wir siegen“ steht auf dieser offiziellen ukrainischen Mitteilung über das Ende des Zweiten Weltkriegs. Beachten Sie, dass sich die Jahreszahlen geändert haben. Früher waren es die Jahre 1941-1945 - die Jahre, in denen nur der sowjetisch-deutsche Krieg stattfand.

© Foto: Ukrainian Institute of National Memory

Für ukrainischen Schulkinder in den 2000er Jahren stand der 9. Mai vor allem für einen Besuch bei der örtlichen Parade. Dort überreichten sie den Kriegsveteranen, die die Hauptstraße entlang marschierten, Blumen. Die Kinder trugen kleine schwarz-orange gestreifte St.-Georgs-Bänder – ein Symbol für den Sieg über den Nationalsozialismus.

Im vergangenen Jahr, als russische Truppen einen Teil der Region Charkiw besetzten, meldete sich ein Dorfbewohner freiwillig, um mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Er trug dabei das Band des Heiligen Georg. Als die ukrainischen Streitkräfte das Dorf befreiten, stellten ihn die anderen Bewohner des Ortes zur Rede und bedrohten ihn. Dabei sprachen sie sich auch gegen das einst wichtige Symbol aus. Der Mann wurde von der Polizei verhaftet.

In der Ukraine hat sich offensichtlich einiges geändert.

Am 9. Mai 2010 verlängerte Russland den Pachtvertrag für seinen russischen Marinestützpunkt auf der ukrainischen Krim. In Kiew fand damals noch eine große Militärparade mit sowjetischen Symbolen statt. Im Jahr 2014 begann der russisch-ukrainische Krieg. Menschen, die mit Russland sympathisieren, trugen das St. Georgsband.

Ein Jahr später verabschiedete die Ukraine ein Gesetz zur „Entkommunisierung“, das neben Nazi-Symbolen auch sowjetische Zeichen verbot. Der wichtigste Feiertag wurde der 8. Mai als „Tag des Gedenkens und der Versöhnung“; die rote Mohnblume wurde zum Symbol dieser Versöhnung. Die Ukraine hörte auf, Militärparaden abzuhalten. Im Gegensatz dazu begann Russland, sie in den besetzten Gebieten zu veranstalten. Eine solche Parade in Sewastopol auf der Krim wurde 2014 sogar von Präsident Wladimir Putin besucht.

Trotz der offiziellen Politik des ukrainischen Staates sahen bis vor nicht allzu langer Zeit noch 80 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer den 9. Mai als einen wichtigen Feiertag an. Das änderte sich mit der russischen Invasion 2022: Heute würden laut Umfragen nur noch 15 Prozent der Menschen in der Ukraine diesen Tag als Feiertag begehen.

Vor gut einem Jahr verließen die Menschen in der Ukraine die Großstädte aus Sorge, dass Russland an gerade diesem 9. Mai, dem Tag des Sieges, Atomwaffen einsetzen könnte.

Früher waren die einzigen Explosionen, die wir an den Maitagen hörten, Feuerwerkskörper. Heute sind es Raketen. Es herrscht keine Feierstimmung, sondern nur ein Gefühl der Angst und Gefahr – und das Bedürfnis nach Wahrheit.

Oksana Rasulova ist Journalistin beim Portal Babel.ua in Kiew. Sie befasst sich mit sozialen Themen.


Geschichtsrevisionisten an der Macht

Der heutige Präsident des Senats der Republik, Ignazio La Russa (rechts), ist hier in seiner Jugend zu sehen, als er an Benito Mussolini erinnert wurde.
Der heutige Präsident des Senats der Republik, Ignazio La Russa (rechts), ist hier in seiner Jugend zu sehen, als er an Benito Mussolini erinnert wurde.

© Foto: IPA/Fotogramma.

„Der Angriff von Partisanen in Via Rasella ist ein Teil der Geschichte, der alles andere als rühmlich ist. Die Menschen, die damals getötet wurden, waren eine Musiktruppe aus Vor-Ruheständlern, keine SS-Nazis.“

Das behauptet zumindest Ignazio La Russa, der Vorsitzende des italienischen Senats. Bevor er in das zweithöchste Amt der Republik aufstieg, war La Russa vor allem für seine faschistischen Wurzeln bekannt. Er sammelte nicht nur Memorabilia von Benito Mussolini, sondern begann seine politische Karriere auch als Anführer der neofaschistischen Jugendfront (Fronte della Gioventù).

Später war er Mitbegründer der Fratelli d‘Italia, der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Als die rechtsextreme Regierungskoalition an die Macht kam, wurde La Russa umgehend von Meloni in seinen aktuellen Posten gehievt.

Dort übt sich der Senatspräsident nun in Geschichtsrevisionismus. Am Tag der Befreiung Italiens (25. April) besuchte er nicht mit Staatspräsident Sergio Mattarella die antifaschistische Gedenkstätte im Piemont, sondern reiste stattdessen nach Prag.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.


„Lebende“ Opposition gegen Ungarns Symbolpolitik

Mitglieder der Bewegung „Lebendiges Gedenken“ vor der Gedenkstätte für die Opfer der deutschen Besatzung, Budapest.
Mitglieder der Bewegung „Lebendiges Gedenken“ vor der Gedenkstätte für die Opfer der deutschen Besatzung, Budapest.

© Foto: Béla Molnár B.

Der ungarische Staat und die ungarische Gesellschaft drücken sich vor ihrer Mitverantwortung für den Holocaust. Das ist jedenfalls einer der häufigsten Kritikpunkte, der am 2014 in Budapest errichteten Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung regelmäßig geübt wird. Die Ablehnung dieses Denkmals, das die Verantwortung und Beteiligung Ungarns an einem der dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts unerwähnt lässt, hat sich inzwischen zu einer echten Protestbewegung entwickelt.

Seit fast zehn Jahren versammeln sich regelmäßig Mitglieder der Bewegung „Living Memorial“ in der Nähe des Mahnmals, um über gemeinsame Erinnerungen zu sprechen, beispielsweise über die Rolle der ungarischen Behörden bei Deportationen und Massentötungen.

Im Interview spricht der Kunsthistoriker András Rényi über die schwierigen Debatten über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Ungarn.

Wie beeinflusst die ungarische Erinnerungs- und Denkmalpolitik die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg?

Symbolpolitik ist für die heutige ungarische Regierung eines der wichtigsten Handlungsfelder. Nach der derzeit vorherrschenden Erzählung war Ungarn angesichts der deutschen und sowjetischen Besatzung 46 Jahre lang nicht souverän. Alles, was in dieser Zeit geschah, ist also auf andere Mächte oder Kollaborateure zurückzuführen.

Bei der besagten umstrittenen Statue stürzt sich ein deutscher Adler auf den Erzengel Gabriel, wodurch diesem der Reichsapfel (ein Teil der ungarischen Kronjuwelen) aus der Hand fällt. Auf dem Denkmal auf dem Heldenplatz wiederum führt derselbe Erzengel die siegreichen Ungarn zum Karpatenbecken.

Diese beiden Werke in Budapest sollen den Anfang und das Ende der tausendjährigen Geschichte Ungarns symbolisieren – und somit auch den Beginn einer neuen Ära unter Viktor Orbán, in der keine Verantwortung für die eigenen Fehler der Vergangenheit übernommen wird.

Gibt es Opposition oder Gegendarstellungen zu dieser Sichtweise?

Die Living Memorial-Bewegung ist eine der wenigen Initiativen, die der Orbán-Regierung eine symbolische Niederlage zufügen konnte. Das Besatzungsdenkmal, das so viel Kritik auf sich zog, wurde nie offiziell eingeweiht.

Wie würden Sie die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen beschreiben?

Das Wissen und die Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs schienen immer weiter entfernt und immer unpersönlicher zu werden. Es gab weniger direkten Bezug. Durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine werden diese Erinnerungen nun aber reaktiviert.

Die Bilder des Massakers in Butscha haben die gesamte europäische Öffentlichkeit schockiert. In der liberalen Welt hat sich durch Putins Aggression das Gefühl der Gefahr verstärkt.

Boróka Parászka ist Journalistin und Redakteurin bei hvg.hu. Sie lebt im rumänischen Târgu Mureș. 


Danke, dass Sie die 29. Ausgabe von European Focus gelesen haben. 

In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Sieg über den Nationalsozialismus gab es in der Sowjetunion keine großen Feierlichkeiten, keine Paraden, keine Konzerte – meist wurde getrauert und über das Vergangene reflektiert.

Als die persönlichen Erinnerungen verblassten, nutzte der Staat den Zweiten Weltkrieg verstärkt als Propagandamittel. Der Kult um den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde immer größer. Auch heute noch setzen ihn Politiker für ihre Zwecke ein.

Derzeit erleben wir einen neuen Krieg. Es bleibt die Frage, wie wir in Zukunft unsere Erinnerung an diesen aktuellen Konflikt begehen und verarbeiten wollen.

Bis nächste Woche! 

Anton Semischenko

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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