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Das mehrheitlich von ethnischen Albanern bewohnte Presevo-Tal liegt im Südwesten Serbiens.

© Eric Matt

„Ethnische Säuberung“ in Südserbien?: Auf den Spuren der albanischen Bevölkerung des Presevo-Tals

Im Südwesten Serbiens liegt das Presevo-Tal, das sich Kosovo zugehörig fühlt. Seit Jahren werden die dortigen Albaner diskriminiert, einige sprechen sogar von „Apartheid“. Eine Reportage.

Ein kühler Sommerabend in Pristina, 14 Grad. In der Fußgängerzone der kosovarischen Hauptstadt tummeln sich Einheimische und Touristen. An den Straßenständen gibt es gebratenen Maiskolben, traditionellen Kaffee und Gemälde albanischer Nationalhelden wie Skanderbeg oder Adem Jashari zu kaufen.

Direkt im Stadtzentrum liegt auch das Kino Armata, ein in die Jahre gekommenes Gebäude, das an die jugoslawische Vergangenheit erinnert. Auf den Treppenstufen des Eingangs steht Kosovos Kulturminister Hajrulla Ceku, umringt von einer Menschentraube.

Soeben ging die Erstaufführung der kosovarisch-albanischen Filme „I Pabesi“ und „Heshtja vret“ zu Ende. Ursprünglich sollten die Filme nicht in Pristina, sondern im rund 55 Kilometer entfernten Presevo stattfinden. Dort jedoch wurden die Filme verboten, denn die Stadt und das gleichnamige Presevo-Tal sind zwar mehrheitlich albanisch, gehören jedoch zu Serbien. Die offizielle Begründung der Behörden war, dass die Filme zu Gewalt aufriefen. Albaner jedoch vermuten, man wolle sie schikanieren und ihre Kultur unterdrücken.

Während Regierungschef Albin Kurti gleich wieder losmuss, hat Kulturminister Ceku Zeit für ein Gespräch mit dem ausländischen Journalisten. Das Verbot überrasche ihn nicht, erklärt der 40-Jährige. „Es ist die Fortsetzung repressiver Maßnahmen gegen Albaner in Serbien. Die Menschen im Presevo-Tal werden aber weiterkämpfen, um ihre nationale Identität zu bewahren“, sagt der Kulturminister. Auf der Hauswand hinter ihm ist ein mit Graffiti gesprühter Schriftzug „Love or Hate“ zu sehen.

Wer aus der kosovarischen Hauptstadt gen Südosten fährt, erreicht nach gut einer Stunde den Grenzübergang zum Presevo-Tal in Serbien. Vielerorts hängt weiterhin die rote Flagge mit dem schwarzen Doppeladler, dem Nationalsymbol der Albaner. Eigentlich ist das Zeigen der albanischen Flagge verboten und wird mit mehreren Tausend Euro bestraft. Doch dies hält nicht alle ab.

Denn das Tal ist die Heimat von rund 80.000 Menschen, von denen etwa 70 Prozent ethnische Albaner sind. Genaue Statistiken gibt es nicht, nachdem der Zensus im Jahre 2011 boykottiert wurde. Das Tal besteht aus den Städten Presevo, Bujanovac und Medvedja sowie umliegenden Dörfern. In der Vergangenheit diskutierten Politik und Gesellschaft immer wieder über einen Anschluss an den Kosovo.

Bereits im Jahre 1992 stimmten in einem Referendum mehr als 95 Prozent für eine Autonomie und einen Zusammenschluss mit dem Kosovo. Nach dem Kosovokrieg gab es zwischen 1999 und 2001 mit der UCPMB sogar eine militante Widerstandsgruppe. Bis dato änderte all das jedoch nichts an der Zugehörigkeit zu Serbien.

Daher verharren die Albaner weiter im Niemandsland, an der Grenze zu Kosovo und Nordmazedonien. Die Region – flächenmäßig etwas größer als Berlin – ist die strukturschwächste Serbiens, die Arbeitslosigkeit liegt bei schätzungsweise 70 Prozent. Viele der Bewohner können sich nur durch Geldtransfers über Wasser halten. Überall streunen herrenlose Hunde und Katzen, bis tief in die Nacht betteln Kinder. An manchen Orten ist auf den Straßenschildern nur die kyrillische Schrift zu sehen, während der albanische Name gestrichen wurde. An anderen Orten ist es genau umgekehrt.

Es findet eine ethnische Säuberung statt. Dies konnte Serbien nicht durch Waffen erreichen, und nun wird es auf administrativem Wege versucht.

Hajrulla Ceku, Kulturminister des Kosovo

Besonders deutlich wird die Armut auf den Mülldeponien im kosovarisch-serbischen Grenzgebirge: Auf einer Fläche von mehreren Hundert Metern ist die sonst saftig grüne Landschaft übersät von Plastiktüten, Elektronikgeräten und Matratzen. Trotz des stechenden Geruchs und des brennenden Mülls suchen Kühe nach Essen und verarmte Menschen nach Brauchbarem.

In der Nähe der Stadt Presevo gibt es riesige Müllhalden. Kühe suchen dort nach Essen, verarmte Menschen nach Wertgegenständen.
In der Nähe der Stadt Presevo gibt es riesige Müllhalden. Kühe suchen dort nach Essen, verarmte Menschen nach Wertgegenständen.

© Eric Matt

Doch nicht nur die wirtschaftlichen Strapazen erschweren das Leben. Seit einigen Jahren kommt es zur gezielten Unterdrückung der albanischen Bevölkerung. Dies zeigt die Studie der Wissenschaftlerin Flora Ferati-Sachsenmaier für das Max-Planck-Institut, die in wenigen Tagen veröffentlicht wird und dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt.

Demnach hat sich Belgrad zum Ziel gesetzt, albanisches Leben im Presevo-Tal weitestgehend zurückzudrängen, um sukzessive eine serbische Mehrheit zu etablieren. Denn dadurch könne Kosovo in zukünftigen Verhandlungen über einen Gebietsaustausch die Region nicht mehr für sich beanspruchen, erklärt die Politologin.

Die Studie zeigt, dass in den vergangenen Jahren die Adressen von Tausenden Albanern systematisch gelöscht wurden. Diese Praxis nennt sich „Passivierung der Wohnadresse“ und wurde im Jahre 2011 ursprünglich eingeführt, um Wahlbetrug zu unterbinden. Ethnische Serben jedoch sind davon kaum betroffen.

4214
Bewohner wurden zwischen 2011 und 2020 aus den staatlichen Registern der Stadt Medvedja gelöscht – bei 7438 Einwohnern.

Mittlerweile nämlich werde das Gesetz genutzt, um eine „ethnische Homogenität in Serbien zu erreichen“, erklärt Ferati-Sachsenmaier. Durch die Passivierung der Adresse würden die Betroffenen „faktisch staatenlos“, da sämtliche Dokumente wie Personalausweis oder Reisepass an Gültigkeit verlieren. Dadurch ist es beispielsweise nicht mehr möglich, bei Wahlen abzustimmen, Eigentum zu erwerben, Krankenhausleistungen in Anspruch zu nehmen oder einer Arbeit nachzugehen.

Besonders dramatisch ist die Situation in Medvedja, wo in den Jahren 2011 bis 2020 insgesamt 4214 Menschen passiviert wurden – bei einer Einwohnerzahl von 7438 Menschen. Die überwältigende Mehrheit davon waren Albaner. Dies zahlte sich im Wahlergebnis aus: Während die Partei des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic bei den Lokalwahlen im Jahre 2012 in Medvedja noch auf zwölf Prozent der Stimmen kam, konnte sie drei Jahre später 65 Prozent erreichen.

Der kosovarische Kulturminister Hajrulla Ceku wirft Belgrad daher „ethnische Säuberung von Albanern“ vor. Dies habe Serbien in der Vergangenheit „nicht durch Waffen erreichen können, und nun wird es auf administrativem Wege versucht“. Vucic bezeichnet er als „klaren Autokraten“, das Land selbst als „den größten Risikofaktor in der Region“. Die serbische Regierung hat sich auf mehrfache Anfrage des Tagesspiegels nicht zu dem Thema geäußert. Doch was denken die Albaner im Presevo-Tal selbst?

In einem Vorort der Stadt Bujanovac wurde der albanische Name weggestrichen – vermutlich von serbischen Nationalisten.
In einem Vorort der Stadt Bujanovac wurde der albanische Name weggestrichen – vermutlich von serbischen Nationalisten.

© Eric Matt

Wer mit Betroffenen spricht, bemerkt, dass viele ihren Lebensmittelpunkt im Moment der Passivierung nicht mehr in Serbien hatten. Sie waren nach Westeuropa ausgewandert oder wohnten für mehrere Monate im Jahr im Kosovo. Zwar sahen sie das Presevo-Tal als ihre Heimat an, doch das Leben fand größtenteils woanders statt.

Es gibt aber auch den Fall, dass Menschen gelöscht wurden, obwohl sie Serbien nie verlassen hatten. Dazu gehört Donika Berisha, die in Wirklichkeit anders heißt und nur anonym über ihren Fall sprechen möchte. An einem frühen Dienstagmorgen lädt die 57-Jährige gemeinsam mit ihrem Mann zum Gespräch am Stadtrand von Presevo.

Sie wuchs hier in der Stadt auf, heiratete, bekam Kinder. Ihr ganzes Leben verbrachte sie in Serbien. Und trotzdem erklärten die Behörden im vergangenen Jahr, sie würde nicht mehr in Presevo leben und löschten ihre Adresse.

Berisha ist die Nervosität anzumerken. Die Vorhänge des Wohnzimmers sind zugezogen, an der Wand hängt ein Bild, das die albanischen Regionen des Balkan miteinander vereint. Es verdeutlicht, wofür das eigene Herz schlägt. Sie erklärt, sie habe keinerlei ethnische Serben in ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis. „Es gibt keine Hilfe von ihnen, somit brauche ich auch keinen Kontakt“, sagt Berisha, während im Hintergrund das kosovarische Fernsehen läuft.

Für drei Monate sei sie aus den Registern gelöscht gewesen, habe praktisch nicht mehr existiert. In der Zeit habe sie das Haus kaum verlassen und vergeblich versucht, mit den Behörden in Kontakt zu treten. Diese hätten jedoch alles abgeblockt, denn die Widerrufsfrist von acht Tagen sei verstrichen, man sei nicht mehr zuständig.

Erst durch ihren Mann und „gewisse Gefälligkeiten“ kam Berisha zurück ins System. „Ohne Hilfe wäre ich wohl für immer ohne Dokumente geblieben, ich selbst hatte keine Chance“, sagt Berisha.

Enkel Rexhepi ist stellvertretender Vorsitzender des albanischen Nationalrates in Serbien.
Enkel Rexhepi ist stellvertretender Vorsitzender des albanischen Nationalrates in Serbien.

© Eric Matt

Für manche gehört ein solches Schicksal zum politischen Alltag. Enkel Rexhepi ist stellvertretender Vorsitzender des albanischen Nationalrates und kümmert sich um die Minderheitenrechte in Serbien. Der 36-Jährige mit Kurzhaarfrisur und Dreitagebart empfängt im Tagungsraum des Nationalrates in Presevo. Er trägt T-Shirt und Stoffjacke in olivgrün – es erinnert an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Wie dieser findet auch Enkel Rexhepi drastische Worte. Er wirft dem serbischen Staat „Apartheid“ vor, es sei „die gleiche Politik wie zur Zeit von Milosevic, nur mit moderneren Mitteln“. Der albanische Nationalrat habe sich daher auch an den US-Kongress sowie den Europarat gewandt. Beide hätten versichert, sich des Themas annehmen zu wollen.

Jedoch fühlten sich die Albaner in Serbien auch von Tirana alleingelassen. „In der Verfassung von Albanien ist festgeschrieben, dass sich der Staat für alle Albaner auf der Welt einsetzen muss. Doch das geschieht zu wenig, wir bekommen einfach nicht genug Unterstützung“, klagt Rexhepi.

An eine baldige Problemlösung oder gar einen Anschluss des Presevo-Tals an den Kosovo glauben er und Donika Berisha nicht. In den nächsten Jahren werden sie daher wohl weiter im serbischen Niemandsland verharren.

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