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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #34: Wie sehr sollte Arbeit unser Leben formen?

+++ Die Rettung für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen? +++ Zahlen der Woche: 62 und 54 Prozent +++ Die Viertagewoche als Booster für die Geschlechtergleichstellung +++ Lehrerstreik gegen Hungerlöhne +++ Gegen die Privatisierung der Zeit!

Hallo aus Paris, 

Ich bin in einer etwas ungewöhnlichen Familie aufgewachsen. Während ihres gesamten Erwerbslebens haben meine beiden Eltern in Teilzeit gearbeitet. So hatten sie mehr Zeit, meinen Bruder und mich aufzuziehen – und jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind und sie auf die Rente zugehen, ist ihre arbeitsfreie Zeit mit Engagement für diverse Organisationen gut gefüllt.

Damals war das ungewöhnlich. Heute ist es ein Trend, zumindest für diejenigen, die es sich finanziell leisten können.

In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Arbeitswelt massiv verändert. Menschen, die all ihre Energie und Lebenszeit in den Job investieren, sind für viele junge Leute kein Vorbild mehr (oder zumindest nicht das einzig denkbare Modell).

Junge Menschen wollen wieder mehr Kontrolle über ihre Lebenszeit. Wie unsere polnische Kollegin es ausdrückt: „Der neue Luxus ist nicht finanzielle Freiheit, sondern Freizeit.“  

Einige mögen – richtigerweise – einwenden, dass eine Arbeitszeitverkürzung keine Priorität ist, wenn man kaum genug Gehalt zum Leben bekommt. Andere würden diagnostizieren, dass die aktuellen Entwicklungen ein weiterer Höhepunkt der Individualisierung der Gesellschaft sind.

In diesem Newsletter werden Sie aber auch über eine andere Perspektive aus Italien lesen: wer weniger Zeit im Büro verbringt, kann (und sollte) sich sozial, politisch, gewerkschaftlich oder ganz allgemein „für die Gesellschaft“ engagieren.  

Nelly Didelot, dieswöchige Chefredakteurin


Die Rettung für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen?

Ich erinnere mich an diese ständige Müdigkeit, an das Abgearbeitetsein meiner Eltern. Ihre Generation hat ihr gesamtes Leben der Arbeit gewidmet. Ihre Freizeit wurde stets mit weiteren Arbeiten ausgefüllt – teils aus finanzieller Not, teils weil sie einfach keine Vorstellung hatten, wie sie diese freie Zeit sonst verbringen sollten.

Freizeit galt als etwas für Versager, die in den Tag hinein leben und sich für nichts interessieren. Meine Eltern waren Teil der ersten Generation, die den real existierenden Kapitalismus zu spüren bekam – und ihr Leben um das Geldverdienen herum gestaltete.

Harte Arbeit, Überstunden: für viele war dies im postsozialistischen Polen die einzige Möglichkeit, über die Runden zu kommen. Dementsprechend bekam meine Generation ihre Eltern selten zu Gesicht. Meine 25- bis 30-jährigen Freundinnen und Freunde mögen unterschiedliche Ansichten und Lebenserfahrungen haben, in einem Punkt sagen aber alles dasselbe: ihre Eltern haben zu lange und zu viel gearbeitet und bei der Erziehung ihrer Kinder zu viel Wert auf das Erreichen finanzieller Sicherheit gelegt.

Für unsere Eltern war Luxus all das Glänzende, Aufregende, das dieser neue Kapitalismus mit sich brachte. Um diesen Luxus in vollen Zügen zu genießen, musste man sich an die von der freien Marktwirtschaft diktierten Regeln halten. Unsere Generation hingegen beginnt damit, den Begriff Luxus neu zu definieren.

Im Mittelpunkt steht dabei nicht finanzielle Freiheit, sondern Freizeit. Die Frage, wie viel freie Zeit uns ein Arbeitgeber gewähren will, könnte schon bald den Arbeitsmarkt bestimmen – und ihn komplett auf den Kopf stellen.

Vor diesem Hintergrund wird die Viertagewoche zu einer echten Perspektive. Sie ist keine bloße Laune einer trägen neoliberalen Gesellschaft, sondern eine Lösung mit handfesten Vorteilen für Unternehmen, Chefs, Angestellte, das Klima und die Wirtschaft selbst.

Jenseits dessen könnte weniger Arbeitszeit noch etwas anderes mit sich bringen: die Chance, einander zu sehen. Die Kraft, Beziehungen zu pflegen. Die Ausdauer, eine gesunde und intakte Gesellschaft aufzubauen.

Edyta Zielińska-Dao Quy ist Redakteurin bei wyborcza.pl und dem Meinungsmagazin Pismo. Sie schreibt außerdem für Znak.


Zahl(en) der Woche

Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht immer noch geteilt. Das gilt auch bei den Ansichten zur Viertagewoche. Laut einer Forsa-Umfrage für den Stern sprechen sich 62 Prozent der Ostdeutschen gegen eine Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich aus. Im Westen ist die Mehrheit demnach ebenfalls dagegen; allerdings sehen dies nur 54 Prozent so.

Der häufigste Grund für diese Skepsis ist die Befürchtung, dass es für die Unternehmen zu schwierig sei, die gleichen Aufgaben auf weniger Arbeitsstunden zu verteilen. Möglicherweise haben die Erfahrungen mit dem Wirtschaftsmodell der DDR oder die Nachwirkungen seines Zusammenbruchs die Menschen in Ostdeutschland misstrauischer gegenüber Experimenten mit der Arbeitsorganisation gemacht.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.


Die Viertagewoche als Booster für die Geschlechtergleichstellung

Zemorda Khelifi, Mitglied der französischen Grünen (Europe Ecologie les Verts), ist Vize-Vorsitzende der Stadtverwaltung von Lyon. Ab September kann über die Hälfte der rund 9.600 Angestellten im öffentlichen Dienst der Stadt testweise auf eine Viertagewoche wechseln, wenn sie dies wünschen.

Warum hat sich die Stadtverwaltung Lyon für diesen Testlauf einer Viertagewoche entschieden? 

Dieser Versuch steht im Einklang mit der Sichtweise vieler Ökologen auf eine Gesellschaft, in der Lebensqualität, Gesundheit und Umwelt an erster Stelle stehen. Idealerweise würden wir die wöchentliche Arbeitszeit gerne auf 32 Stunden [statt derzeit 36] reduzieren, aber das liegt leider nicht in unserer Hand. Zum anderen hoffen wir, dass wir unsere Arbeitsplätze attraktiver machen können. Es fällt uns nämlich derzeit schwer, neue Arbeitskräfte anzuwerben.

Welche Vorteile erhoffen Sie sich von einer Viertagewoche? 

Versuche mit der Viertagewoche im Ausland, insbesondere in Großbritannien, Portugal und Island, haben gezeigt, dass sich die körperliche und geistige Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter verbessert hat. Das hat wiederum zu einer Verringerung der Krankmeldungen geführt.

Die Regelung dürfte sich auch positiv auf die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz niederschlagen. 80 Prozent unserer Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. Durch die Umstellung auf eine Vier-Tage-Woche können sie, wenn sie wollen, wieder in Vollzeit arbeiten und erhalten den vollen Lohn, während sie zumindest einen zusätzlichen freien Tag haben.

Da die Arbeitsstunden nicht reduziert werden, werden die einzelnen Arbeitstage länger. Untergräbt das nicht die angestrebten Effekte der Viertagewoche? 

Ja, das ist natürlich das große Risiko. Positiv ist zu erwähnen, dass sich in jedem Fall die wöchentlichen Pendelzeiten verringern. Diese waren in den vergangenen Jahren stark gestiegen.

Laut einer internen Umfrage, die wir im Jahr 2021 durchgeführt haben, müssen 50 Prozent unserer Angestellten mehr als 30 Minuten zwischen Wohnort und Arbeitsplatz pendeln, und zehn Prozent sind länger als eine Stunde unterwegs. Ein zusätzlicher arbeitsfreier Tag würde zumindest dies etwas wettmachen.

Ich möchte auch daran erinnern, dass es sich bei unserem Test um ein freiwilliges Experiment handelt, dessen Auswirkungen und die Zufriedenheit der Belegschaft wir nach sechs Monaten bewerten werden.

Léa Masseguin ist Journalistin in der Auslandsredaktion der französischen Zeitung Libération aus Paris.


Lehrerstreik gegen Hungerlöhne

„Ich würde lieber Unterricht vorbereiten, als dieses Schild zu malen.“ „Ich kann es mir nicht leisten, zu streiken und nicht bezahlt zu werden. Aber ich kann es mir auch nicht leisten, nicht zu streiken.“

Solche Slogans zeigen Lehrerinnen und Lehrer seit fast einem Monat auf den Straßen Rumäniens. Sie unterstreichen das finanzielle Dilemma der Angestellten im rumänischen Bildungswesen. 

Die meisten Lehrkräfte sind derart unterbezahlt, dass sie gezwungen sind, Zweit- oder gar Drittjobs anzunehmen. Oft arbeiten sie vormittags als Mathe- oder Biologielehrer und liefern nachmittags mit dem Fahrrad Essen aus. Deswegen begann im Mai der größte Lehrerstreik seit 20 Jahren, an dem sich rund 300.000 Menschen beteiligten. Der Streik endete kürzlich, nachdem die Regierung die Forderungen zumindest in Teilen anerkannt und angenommen hatte.

Aktuell streiken Gefängnismitarbeiter für höhere Löhne. Auch die Angestellten im Gesundheitswesen befinden sich seit einigen Tagen in einem hier sogenannten „japanischen Streik“. Das bedeutet, dass sie die Arbeit nicht niederlegen, aber durch das Tragen eines weißen Bandes ihren Protest, ihren Zusammenhalt und ihre potenzielle Macht demonstrieren.

Boróka Parászka ist Journalistin und Redakteurin bei hvg.hu. Sie lebt im rumänischen Târgu Mureș.


Gegen die Privatisierung der Zeit!

Vorsicht vor der Zeitfalle! Der Gedanke, mehr Zeit für sich selbst zu haben, ist äußerst verlockend. Wir müssen aber aufpassen, dass zusätzliche Freizeit nicht zu rein privater Zeit wird. Wir brauchen mehr Zeit für Soziales, für die Gesellschaft. Wir müssen uns mehr mit Politik beschäftigen. (Noch mehr) Passivität auf dem heimischen Sofa darf keine Option sein.

„Italien ist eine demokratische Republik, die auf Arbeit gegründet ist,“ heißt es schon in der Verfassung des Landes. In der heutigen Realität ist Italien vor allem auf prekärer Arbeit gegründet. Seit Jahrzehnten wird unser Sozialsystem mit prekären Arbeitsverträgen umgangen und ausgehöhlt.

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat die Situation mit ihrem „Dekret zum Tag der Arbeit“ noch verschlimmert. Pünktlich zum 1. Mai schaffte sie diverse Einschränkungen und Bedingungen für befristete Arbeitsverhältnisse ab.

Seit der Pandemie ist außerdem die Arbeit im Home-Office auf dem Vormarsch. Das bedeutet, dass selbst diejenigen, die einen festen Arbeitsvertrag haben, heute so arbeiten wie Freiberufler. Kollegen treffen sich weniger. Das schwächt auch ihre Fähigkeit, sich gegen Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz zu wehren.

In Rom schlafen die Arbeiterinnen und Arbeiter von Lieferdiensten zwischen ihren Aufträgen auf grasbewachsenen Kreisverkehren. Die Situation entgleitet uns zunehmend. Wir scheinen uns auf direktem Weg in die Sklaverei 2.0 zu befinden. 

Würde eine Viertagewoche wieder etwas mehr Balance in die Beziehungen zwischen den viel zitierten 99 Prozent und dem immer reicher werdenden ein Prozent bringen? Das hängt davon ab, wie wir die freie Zeit nutzen.

Auf einer Demonstration gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre, sagte der französische Linke Jean-Luc Mélenchon kürzlich, wir sollten unsere Lebenszeit nicht als Ware verhökern. Dem stimme ich zu, aber ist daraus zu schließen, dass wir einfach mehr „private Zeit“ brauchen, wie Mélenchon es nennt?

Ich denke, wir sollten auch gegen eine weitere Individualisierung und Privatisierung der (Frei-) Zeit vorgehen. Wir verabschieden uns von Kinos und gemeinsamen Kulturangeboten, weil jeder sein eigenes Netflix hat. Wir engagieren uns nicht in Parteien, weil wir das Gefühl haben, von der Politik nicht vertreten zu werden. Statt ins Restaurant zu gehen, bestellen wir unser Essen per App. Fühlen Sie sich dadurch freier – oder eher einsamer?

Holen wir uns unsere gemeinsame Zeit zurück. Gehen wir wieder zu Gewerkschaftstreffen. Erkämpfen wir uns die Politik zurück. Lassen Sie uns angesichts der Klimakatastrophe gemeinsam wütend werden. Mehr Zeit ist nichts wert, wenn man keine Hoffnung hat.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.


Danke, dass Sie die 34. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Woher mehr Freizeit nehmen? Ein Tag hat 24 Stunden, eine Woche sieben Tage – und beides kann oftmals zu kurz sein. Sollten wir deswegen weniger arbeiten und unsere Aufgaben stärker aufteilen? Oder müssen wir andere Wege finden, produktiver zu werden, sodass bei weniger Arbeitszeit das Gleiche geschafft wird?

Solche Fragen müssen wir beantworten, wenn wir die Art und Weise, wie Arbeit unser Leben prägt, verändern wollen. 

Bis nächste Woche! 

Nelly Didelot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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