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A Ukrainian serviceman, of the 10th separate mountain assault brigade of the Armed Forces of Ukraine, fires an anti-tank grenade launcher at his position at a front line, amid Russia's attack on Ukraine, near the city of Bakhmut in Donetsk region, Ukraine July 13, 2023. REUTERS/Sofiia Gatilova     TPX IMAGES OF THE DAY

© REUTERS/stringer

Experten berichten aus der Ukraine: Die vier wichtigsten Fragen und Antworten zum Stand der Gegenoffensive

Mehrere renommierte westliche Militärexperten besuchten zuletzt die Ukraine und machten sich ein Bild der Lage. Wie kommt die Offensive voran? Wie lauten ihre Prognosen? Ein Überblick.

Offizielle Stellungnahmen zum Kriegsverlauf sind von russischer und ukrainischer Seite rar. Der Generalstab in Kiew beispielsweise veröffentlicht zwar jeden Tag einen Lagebericht, doch ergibt sich daraus selten ein genaues Bild der Gefechte an der hunderte Kilometer langen Front.

Beobachter des Geschehens sind vielmehr auf Berichte von Militärexperten angewiesen, die die Lage aufgrund jahrelanger Erfahrung nicht nur einschätzen können, sondern auch versuchen, diese möglichst detailliert wiederzugeben.

Vier dieser Experten haben in den vergangenen Wochen die Ukraine besucht. Zunächst berichtete Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) dem Tagesspiegel nach einem einwöchigen Besuch vor zwei Wochen von seinen Erkenntnissen nach Gesprächen mit Militärs, NGOs und Entscheidungsträgern.

Gleiches tat auch Franz-Stefan Gady vom Londoner Institute for International Strategic Studies nach seinem Besuch in der vergangenen Woche. Er reiste mit den renommierten Kriegsanalysten Michael Kofman und Rob Lee, die seine Sicht auf den Krieg teilen.

Die Antworten der Experten auf die wichtigsten Fragen zum Verlauf der ukrainischen Gegenoffensive sind hier zusammengefasst.

1 Wie kommt die Offensive voran?

Die Ukrainer kommen seit dem Taktikwechsel zu Beginn der Gegenoffensive besser voran, da sind sich die Militärexperten Gressel und Gady einig. In der ersten Woche hatten die Ukrainer noch versucht, die Russen mit schnellen mechanisierten Durchstößen zu überraschen. „Das hat nicht funktioniert, die Ukrainer wurden größtenteils durch russische Kampfhubschrauber gestoppt“, sagt Gressel.

Danach sind die Ukrainer dazu übergegangen, Minen langsam zu räumen und die Sturmangriffe „fast schon ähnlich wie im Ersten Weltkrieg vorzubereiten“, sagt Gressel. Das heißt: Die ukrainischen Streitkräfte versuchen den Durchbruch mit Panzern erst dann, wenn sie mit der Infanterie in die Stellungen eingebrochen sind. Das Problem: „Mit der neuen Taktik holt man Gelände immer nur sehr kleinräumig, weil mehr Artillerie-Vorbereitung nötig ist als sonst üblich“, so Gressel.

Das veränderte Vorgehen beschreibt Gady als „Abnutzungskampf“. Der Charakter der Offensive wird sich nach seiner Ansicht aber nur dann ändern, wenn Kiews Soldaten systematisiertere Angriffe durchführen können. „Andernfalls wird es ein blutiger Zermürbungskampf bleiben, bei dem nach und nach Reserveeinheiten nachgeschoben werden“, sagt Gady.

Das Grundziel der neuen Phase des Kriegs sei immer noch das Heranschieben an die Hauptverteidigungslinien der Russen, um dort die Stelle für den Durchbruch zu finden, so Gressel. „Da sind sie jetzt schon deutlich weiter. An manchen Stellen der Frontlinie könnte es mit dem Durchbruch schon bald klappen.“

Das Problem, das Gressel sieht: Die Phase, die eigentlich ein paar Wochen in Anspruch nehmen sollte, wird nun vermutlich zwei Monate dauern bis Ende Juli. Mit größeren Fortschritten und einem Bewegungskrieg sei erst im August und September zu rechnen.

2 Welche sind die größten Schwierigkeiten?

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nannte schon vor Wochen den Munitionsmangel, die fehlende Lufthoheit und vor allem die Verminung durch die Russen als größte Hindernisse für die Gegenoffensive. Das bestätigten die Experten nach dem Besuch in der Ukraine.

„Die Verminung ist ein Riesenproblem, weil sie die Einsatzmöglichkeiten der Ukrainer stark einschränkt“, sagt Gressel. Wenn die Ukrainer Minengassen vorfänden, könnten sie dort immer nur recht kleinteilige Angriffe fahren. Das geringe Tempo der Gegenoffensive kommt erschwerend hinzu. Denn statt hinter den erwarteten Minengürteln freies Terrain vorzufinden, hatten die Russen genügend Zeit, dort schon die nächsten anzulegen.

Man sieht, dass Fähigkeitslücken wie mangelnde Kampfjets einen hohen Preis haben.

Militärexperte Gustav Gressel über Defizite der Ukraine

Die fehlende Lufthoheit ist auf den Umstand zurückzuführen, dass noch immer keine F-16-Kampfjets angekommen sind – und es auch keine Perspektive gibt, wann dies der Fall ist. Die Verluste durch Luftangriffe seien nicht unerheblich, so Gressel. „Man sieht, dass Fähigkeitslücken wie mangelnde Kampfjets einen hohen Preis haben.“

Eine weitere große Schwierigkeit ist, dass die Ukrainer die unter anderem in Deutschland gelernten „combined arms“-Manöver im Nato-Stil nicht wie erhofft umsetzen können. Der Plan war: weniger Einsatz von verwundbaren Fußsoldaten, dafür mehr schwere Waffen. „Die ukrainischen Streitkräfte beherrschen noch immer keine Operationen mit verbundenen Kräften in großem Umfang“, berichtet Gady.

Für den Experten ist das „der Hauptgrund für die langsamen Fortschritte“. Die mangelnden Fähigkeiten würden die Ukrainer anfällig machen für russischen Beschuss mit Panzerabwehrlenkwaffen und Artillerie. „Das russische Verteidigungssystem wird nicht systematisch auseinandergerissen“, beschreibt Gady die Situation.

„Im mechanisierten Gefecht geht alles viel schneller als zu Fuß. Das hat einige Kommandanten auch überfordert“, sagt Gressel. Er ist sich sicher: Hätte die Ukraine sich mehr Zeit gelassen für die Verbandsausbildung, hätte sie auch bessere Resultate erzielt.

Allerdings entschied sich Kiew aus zwei Gründen dagegen: Aufgrund neuer Repressionen in den von Russland besetzten Regionen im Süden. Und, weil die Russen sonst noch mehr Zeit zum Verminen gehabt hätten.

3 Welche Waffen braucht die Ukraine dringend?

Gady betont, dass die Ukrainer taktische Anpassungen benötigten, um die neuen Waffen überhaupt effektiv einsetzen zu können. „Einige ukrainische Angriffe wurden von der russischen Infanterie mit Panzerabwehrraketen gestoppt, noch bevor sie das erste russische Minenfeld erreicht hatten“, beschreibt er den Mangel an systematischem Vorgehen.

Ein militärischer Erfolg ist für die Ukraine immer noch möglich.

Militärexperte Franz-Stefan Gady

Doch wenn Waffen momentan einen Unterschied machen könnten, dann Kampfjets, Luftabwehrsysteme, Kampfpanzer oder Schützenpanzer, Raketen des Typs ATACMS und Minenräumgerät. Letzteres soll jetzt zusätzlich aus Deutschland kommen. „Das Problem ist, dass die Russen gezielt nach diesem Gerät suchen und versuchen, es zu zerstören“, sagt Gressel.

Die ATACMS-Raketen könnten ein Gamechanger werden, weil die US-Mehrfachraketenwerfer Himars mit ihnen eine Reichweite von bis zu 300 Kilometer erhalten. Mit der bisherigen Ausbaustufe haben die Himars lediglich die Hälfte der Reichweite. Die US-Regierung schreckte lange vor einer Lieferung zurück, weil die Ukraine mit den Raketen auch russisches Staatsgebiet angreifen könnte. Allerdings scheint die Vorsicht langsam einem risikofreudigeren Vorgehen zu weichen.

Gressel glaubt, dass der Westen erkannt hat, welches Gerät die Ukrainer brauchen – allerdings komme zu wenig davon an. „Grundsätzlich unterliegen größere Geräte wie Panzer einer weit höheren Abnutzung als Fliegerabwehr und Artillerie“, erklärt Gressel. „Bei der Qualität haben wir erkannt, was geliefert werden muss. Woran es mangelt, ist die Quantität“, sagt er weiter.

Die gelieferte Streumunition werde in der Ukraine hingegen eher als Trostpflaster dafür gesehen, dass keine Kampfjets geliefert werden. „Sie haben es natürlich trotzdem positiv aufgenommen – Munition ist Munition, davon brauchen sie viel. Aber sie wissen ja wieder nicht, wann es kommt und wie viel“, berichtet Gressel von den Klagen aus Kiew.

4 Wie lauten die Prognosen?

Das Ziel der Offensive habe sich seit Beginn der Gegenoffensive nicht verändert, sagt Gressel: das Asowsche Meer zu erreichen, um die Landverbindung im Süden zu unterbrechen. Das würde die Front erheblich verkürzen. „Zum anderen ist das Ziel der Ukraine, den Dnipro zu sichern und das Atomkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern. Das ist das, was sie im Verlauf dieses Jahres noch erreichen kann“, sagt Gressel.

Trotz der genannten Probleme und Schwierigkeiten bleiben die Experten aus der Perspektive der Ukraine vorsichtig optimistisch. „Die wichtigste Frage im Hinblick auf einen weiteren militärischen Erfolg der Ukraine im Jahr 2023 ist, ob sich das ukrainische Militär an größere kombinierte Waffeneinsätze anpassen und die Mobilität auf dem Schlachtfeld wiedererlangen kann, nachdem es die russischen Streitkräfte mit seiner Feuerkraft ausreichend geschwächt hat“, erklärt Gady.

Aus seiner Sicht werde die Gegenoffensive wohl noch bis in den Herbst hineinreichen. „Ein militärischer Erfolg bei dieser Gegenoffensive ist für die Ukraine immer noch möglich, wird aber eine große Herausforderung darstellen“, so Gady.

Gressel schätzt die Chancen der Ukrainer sogar weiterhin als groß ein – ist aber zunehmend beunruhigt aufgrund der Verluste. „Die Frage, die sich mir stellt, ist deshalb nicht, ob die Ukraine die Ziele dieser Gegenoffensive erreichen kann“, sagt Gressel. „Sondern inwieweit die aktuelle Offensive das Durchhaltevermögen über den Winter hinaus beeinflusst.“

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