zum Hauptinhalt
Eine Frau sitzt auf einem Stuhl in der Nähe ihres Hauses, während die Trümmer der eingestürzten Gebäude beseitigt werden.

© AFP/Ozan Kose

Situation in der Türkei und Syrien nach dem Erdbeben: „Wie lange sollen wir noch in Zelten leben?“

Schwere Erdbeben erschütterten im Februar elf Provinzen der Türkei und den Norden Syriens. Der Alltag in den Gebieten ist noch immer von Trauma, Tod und großer Not geprägt.

Eine braune Pfütze breitet sich in einem dunklen Zelt aus. Auf dem Boden liegen abgenutzte Schuhe, Isomatten. Alles steht unter Wasser. Burcu Özkaya Günaydın erlebte die Erdbebenkatastrophe im Februar in der Türkei selbst mit.

Seitdem teilt sie als freie Journalistin immer wieder Videos der zerstörten Stadt Hatay in den sozialen Medien. In einem anderen Video ist ein Bagger vor Trümmerhaufen zu sehen; alles ist grau, unübersichtlich. Ein Anblick von Chaos. Darunter, schreibt Günaydın, werden noch immer tote Menschen vermutet.

Normalität ist auch über zwei Monate nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien in weite Ferne gerückt. Anfang Februar kosteten Erdbeben mit Stärken von über 7 mehr als 50.000 Menschen das Leben. In der Türkei wurde die Katastrophe zum Politikum, Regierungskritiker:innen warfen dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Baupfusch vor. Im kriegsgebeutelten Syrien verschärfte sich die humanitäre Krise, internationale Hilfe kam erst spät an. Hat sich die Situation verbessert?

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

„Die Menschen sind traumatisiert“, sagt Ahmet Basoglu, der seinen echten Namen wegen Sicherheitsbedenken nicht in der Zeitung lesen will, dem Tagesspiegel. Als freiwilliger Helfer ist er vor zwei Wochen aus Pazarcık, einer alevitisch-kurdischen Gemeinde im Epizentrum des Erdbebens, zurück nach Deutschland gekommen. „Wenn Kinder zum Kiosk laufen, rufen sie sich den ganzen Weg über ‚Weg von den Häusern! Nicht in die Nähe der Häuser!´ zu.“

Nur wenige Gebäude in Pazarcik haben das Erdbeben unbeschadet überstanden. Doch niemand traue sich da rein, sagt Basoglu. Noch immer ist die Angst vor Nachbeben groß. Ein Beben der Stärke 5 erlebte er selbst, die Menschen „verließen sofort ihre Zelte und stürmten nach draußen, weil sie in Panik gerieten“. Die meisten Menschen, die er getroffen hat, seien noch immer obdachlos.

Wie lange sollen wir noch in den Zelten leben?

Gonca Tunç aus Hatay überlebte die schweren Erdbeben

Ahmet Basoglu ist einer von unzähligen freiwilligen Helfer:innen, die in den vergangenen Wochen und Monaten ins Erdbebengebiet gereist sind. Doch viele Betroffene müssen sich noch immer selbst helfen, neue Wohnungen suchen, Beerdigungen organisieren.

Das Beben habe ihr „alles genommen“, sagt Gonca Tunç. Sie kommt aus Hatay, fast 200 Kilometer südlich von Pazarcık. Ihren Neffen, seine Frau und deren Kinder habe sie bei den Beben verloren, insgesamt sind 22 Familienmitglieder gestorben. „Wir haben sie ohne Leichentücher begraben müssen“, sagt sie am Telefon. Dabei ist gerade das bei islamischen Beerdigungen ein wichtiges Ritual. Wie viele andere lebt die 63-Jährige mit ihrem Mann in einem Zelt.

„Eine neue Wohnung können wir uns nicht leisten“, sagt Tunç. Staatliche Hilfe gebe es auch keine: „Wie lange sollen wir noch in den Zelten leben?“ Es gibt Momente, da weine sie einfach nur. Die „Hölle während des Erdbebens“ erlebt sie immer wieder neu, hat Albträume, Angst, dass es für immer so bleibt. „So möchte ich nicht bis an mein Lebensende leben.“

Ein Luftbild zeigt eine Zeltstadt in Maraş, einer Provinz in der Türkei. In den betroffenen Gebieten müssen die obdachlos gewordenen Menschen in Hilfsbehausungen leben.
Ein Luftbild zeigt eine Zeltstadt in Maraş, einer Provinz in der Türkei. In den betroffenen Gebieten müssen die obdachlos gewordenen Menschen in Hilfsbehausungen leben.

© Mehmet Ali Ozcan / dpa

Syrische Geflüchtete sind mehrfach belastet

Die Nöte Überlebender wie Gonca Tunç kennt Marcus Bachmann gut. Er ist als humanitärer Berater für Ärzte ohne Grenzen in der Türkei. In den Zeltstädten sei besonders die Hygienesituation für die Menschen eine große Herausforderung.

Bestimmte Personengruppen habe es zudem härter getroffen. Geflüchtete in der Türkei lebten „schon vor den Erdbeben abgelegener und weniger gut versorgt“, sagt Bachmann. Von den über 3,6 Millionen anerkannten syrischen Geflüchteten in der Türkei sind 1,7 Millionen direkt von den Erdbeben betroffen.

Eine von ihnen ist Meysun Khaled. Vor neun Jahren floh sie vom syrischen Bürgerkrieg nach Hatay, der Provinz, in der auch Gonca Tunç lebt. Das Erdbeben zwang die 49-Jährige erneut zur Flucht, dieses Mal nach Sakarya in die Nordtürkei. Seit den Erdbeben erlebe ihre Familie vermehrt Fälle von Rassismus, berichtet Khaled im Gespräch.

100.000
Menschen gelten nach den Erdbeben in Syrien als erneut vertrieben

Auf der Suche nach einer neuen Wohnung sei sie in Sakarya von Vermietern immer wieder abgelehnt worden, „weil wir Syrer sind“. Erst bei der vierten Wohnung hätte es geklappt, „aber auch nur, weil der Bürgermeister der Stadt dabei war, der den Betroffenen des Erdbebens helfen wollte.“

Neben ihrer türkischen Wahlheimat wurde auch Khaleds Heimat am 6. Februar schwer erschüttert. In Syrien trafen die Erdbeben besonders die Provinzen Idlib und Aleppo im Nordwesten und den kurdischen Nordosten des Landes.

Der erste Tag nach den Erdbeben: Einwohner bergen einen verletzten Mann aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes in der von Rebellen kontrollierten kurdischen Stadt Afrîn.
Der erste Tag nach den Erdbeben: Einwohner bergen einen verletzten Mann aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes in der von Rebellen kontrollierten kurdischen Stadt Afrîn.

© AFP / RAMI AL SAYED

Die Situation war dort nach zwölf Jahren Bürgerkrieg besonders dramatisch. Auch hier hat die Naturkatastrophe nicht nur Tausende getötet und verletzt, mehr als 5000 Todesopfer sind es offiziellen Angaben zufolge, sondern viele auch obdach- und arbeitslos gemacht. Mehr als 100.000 Menschen gelten Unicef zufolge als erneut vertrieben.

Ein Ort, den es besonders schwer getroffen hat, ist Afrîn im Nordwesten Syriens. Mehr als ein Viertel aller gemeldeter Todesfälle wurden hier gezählt. Die von der Türkei besetzte Region ist mehrheitlich kurdisch, internationale Hilfe kam nur verspätet, wenn überhaupt, an. Medienberichten zufolge sollen ausländische Hilfsgüter von bewaffneten Gruppen beschlagnahmt und später weiterverkauft worden sein.

Es fehle noch immer an allem, erzählt Erbil E., die in Afrîn lebt. Weder Geld oder Zelte, nicht einmal mehr Grundnahrungsmittel gebe es. „Nachts haben wir keinen Strom“, erzählt sie. „Weil meine Kinder Angst haben, lasse ich für sie die Taschenlampe bis in den Morgen hinein an.“

Ihre Kinder gehen für zwei Stunden in die Schule, für mehr seien die Gebäude nicht sicher genug. Das Gefühl von Angst und Hilflosigkeit ist immer da. In Afrin, in Syrien, in der Türkei. Die größeren Erdbeben sind zwar vorbei, die Schäden und der Schock noch lange nicht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false