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Ukrainische Militärangehörige feuern einen SPG-9-Panzerabwehrgranatwerfer auf russische Truppen in der Frontstadt Bachmut (Symbolbild).

© REUTERS/UKRAINIAN ARMED FORCES/Iryna Rybakova

Ukraine-Invasion Tag 357: Die strategische Bedeutung der Frontstadt Bachmut

Deutschland kann Kampfpanzer-Versprechen nicht einlösen + Russische Führung ist sich Schwäche wohl bewusst. Der Überblick am Abend.

Bachmut hat mittlerweile den Status der bekannten Zwillingsstädte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk erreicht, die im Sommer wochenlang von russischen Truppen belagert wurden. Kiew hielt die Städte damals schmerzhaft lange, die Verluste auf ukrainischer Seite waren enorm. Der ukrainische Präsident Selenskyj beklagte öffentlich den Verlust von mehreren hundert Soldaten pro Tag; er sprach von düsteren Tagen für das Land und das ukrainische Militär.

Erst im letzten Moment, als die Positionen in Lyssytschansk unhaltbar wurden, weil die Russen die Stadt eingekreist hatten und eine komplette Einkesselung drohte, zogen sich die Ukrainer zurück. Das Bild eines ukrainischen Soldaten einer Freiwilligeneinheit, der mit schmutzigem Gesicht, Zigarette im Mund und apathischen, müden Augen beim Verlassen der Stadt von der Ladefläche eines Lasters blickte, ging um die Welt. Die furchtbaren Wochen waren dem Gesicht eingeschrieben. Das war Anfang Juli des letzten Jahres.

Warum die sture Gegenwehr fragten damals viele Beobachter? Die Antwort: Die russischen Truppen sollten so hohe Verluste erleiden, dass ihr jegliche Kraft für weitere Offensiven fehlen würden. So kam es dann auch. Viel weiter als bis Lyssytschansk kamen Putins Soldaten nicht mehr.

So könnte es laut den Experten vom „Institute for the Study of War“ (ISW) jetzt auch bei Bachmut sein. Im Gegensatz zum Sommer gibt es von den Ukrainern keine offiziellen Zahlen zu den eigenen Verlusten, aber bekannt ist, dass sie beträchtlich sind. Militärisch sei die Verteidigung von Bachmut trotzdem sinnvoll, schreibt das ISW und nennt drei Gründe:

  1. Sie binde eine beträchtliche Zahl russischer Truppen – neben den Wagner-Söldnern auch reguläre Einheiten –, die somit nicht woanders eingesetzt werden könnten.
  2. Die extrem hohen Verluste auf russischer Seite begünstigten außerdem die Chancen bei einer kommenden ukrainischen Offensive.
  3. Ein Rückzug aus Bachmut hätte die Ukrainer gezwungen, schnell neue Defensivlinien in wenig geeignetem Terrain zu errichten, die anfällig für russische Angriffe gewesen wären.

Die Einschätzung des ISW ist auch deshalb interessant, weil US-Militärs Kiew kürzlich dazu geraten hatten, die Stadt aufzugeben, um Truppen für eine mögliche Offensive zu schonen. Auch zahlreiche Militärexperten hatten Bachmut zuletzt keine große strategische Bedeutung zugemessen. Die ukrainischen Generäle sehen das offenbar anders.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Deutschland kann sein Kampfpanzer-Versprechen an die Ukraine vorerst nicht im angekündigten Umfang erfüllen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte nach Gesprächen am Rande des Nato-Verteidigungsministertreffens in Brüssel, es sei „ein halbes Bataillon“ Leopard-2-Panzer zusammengekommen. Dazu zählten die von der Bundesregierung zugesagten 14 Panzer des neueren Typs A6 sowie drei weitere von Portugal. Mehr dazu lesen Sie hier.
  • Aus Sicht von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) ist die Entscheidung der Bundesregierung zur Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine zu spät gefallen. „Ja, mit der Entscheidung, nun Leopard-1- und Leopard-2-Panzer zu liefern, tun wir, was wir derzeit tun können. Ein bisschen zu spät, aber immerhin ist es jetzt passiert“, sagte der Wirtschaftsminister der Wochenzeitung „Die Zeit“ auch mit Blick auf künftige ähnliche Entscheidungen. Mehr dazu lesen Sie hier.
  • Jürgen Habermas wirbt für „rechtzeitige Verhandlungen“ mit Putin. Der Philosoph appelliert an den Westen, im Ukraine-Krieg nach „erträglichen Kompromissen“ zu suchen. Eindrücklich macht er die unweigerlich gestiegene Mitverantwortung des Westens deutlich.
  • Nach Einschätzung britischer Geheimdienste ist sich die russische Führung mutmaßlich der zunehmenden Rüstungsprobleme bewusst. Diese sei sich wohl darüber im Klaren, dass die Produktion der russischen Rüstungsindustrie sich zu einer entscheidenden Schwäche entwickle, heißt im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums.
  • Russland hat bei Angriffen in der ostukrainischen Region Luhansk kleinere Fortschritte erzielen können. Das zeigen geo-verifizierte Aufnahmen russischer Panzer nordwestlich der in Luhansk liegenden Stadt Kreminna, wie das Institute for the Study of War (ISW) in seinem aktuellen Bericht schreibt. Mehr in unserem Newsblog.
  • Sechs russische Ballons seien über Kiew gesichtet worden, teilt die Militärverwaltung der Hauptstadt mit. Die meisten seien abgeschossen worden, heißt es in einer Kurznachricht auf Telegram. Die Ballons könnten Radar-Reflektoren oder Spionagegeräte transportiert haben.
  • Die Ukraine hat nach Ansicht von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin eine wirklich gute Chance, die Initiative auf dem Schlachtfeld zu ergreifen. Das ukrainische Militär könne den entscheidenden Unterschied ausmachen, sagt er vor Journalisten. Weiter sagt er, an jedem Waffensystem, das in die Ukraine geliefert werde, würden auch ukrainische Soldaten ausgebildet.
  • Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow wurde eigenen Angaben zufolge von Präsident Wolodymyr Selenskyj gebeten, im Amt zu bleiben. Auf die Frage in einem Reuters-Interview, ob er in den kommenden Monaten weiter als Verteidigungsminister im Amt sein werde, sagt Resnikow: „Ja, das war die Entscheidung meines Präsidenten.“
  • Wegen des Kriegs in der Ukraine sind nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef in einem Jahr Hunderte Kinder ums Leben gekommen. Zwischen Februar 2022 und Januar 2023 seien mindestens 438 Kinder durch Kriegshandlungen getötet und 842 verletzt worden, teilte die Organisation mit. Verstreute Blindgänger und Landminen brächten Kinder zusätzlich in Gefahr.
  • Vor dem Flüchtlingsgipfel am Donnerstag hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den humanitären Kraftakt bei der Versorgung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine im Jahr 2022 betont. „Wir haben bis heute 1.062.000 Ukrainerinnen und Ukrainern vor Putins brutalen Angriffen Schutz geboten“, sagte Faeser der „Rheinischen Post“. 

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