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Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, hält die Rede zur Lage der Union 2023.

© dpa/Philipp von Ditfurth

Rede zur Lage der EU: Von der Leyen beschwört ein falsches Wohlgefühl in Europa

Beweihräucherung statt Aufbruch: Die Kommissionspräsidentin hätte Mut zu größeren, schnelleren Reformen machen können. Doch sie vermied die Schicksalsfragen.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Was für eine verpasste Chance! Warum hat Ursula von der Leyen ihre Rede zur Lage der EU nicht für eine nüchterne Bilanz der Defizite und Herausforderungen genutzt – und die Europäer ermutigt, ihre Zukunftsfragen zu lösen?

Während der Pandemie und dem Ukrainekrieg ist die EU nicht im Stillstand verharrt. Sie hat wichtige Fortschritte gemacht. Nur ist das Tempo der Reformen viel zu gemächlich. Und der politische Wille, der Realität ins Auge zu sehen, immer noch zu gering.

Von der Leyen hätte als Antreiberin sprechen und sich so für eine zweite Amtszeit empfehlen können. Doch sie entschied sich für Wohlfühlrhetorik statt Aufbruch. Sie beschwor ein Europa, wo alle „sein können, wer sie wollen, lieben können, wen sie wollen … mit der Natur versöhnt … in Freiheit und Frieden geeint“. Schöner hätten es selbstzufriedene Träumer nicht ausdrücken können.

Ohne die USA hätte Putin längst gesiegt

Die Realität im September 2023 ist ein herber Kontrast: Seit 19 Monaten tobt ein Krieg in Europa. Gäbe es nicht die USA als Führungsmacht und wichtigsten Waffenlieferanten, hätte Wladimir Putin längst gesiegt.

Die EU müsste als direkter Nachbar und dank ihrer Wirtschaftskraft, die sieben Mal größer als die russische ist, allein in der Lage sein, Putin Grenzen zu setzen. Ist sie aber nicht, das wissen alle.

Dass die EU es heute nicht kann, muss man ihr nicht permanent zum Vorwurf machen – unter einer Bedingung: Ihr Führungspersonal sollte die Unzulänglichkeiten eingestehen und hart arbeiten, um sie zu überwinden.

Wenn aber die Kommissionspräsidentin diese Defizite in ihrer Rede zur Lage der EU nicht mal benennt und Wege zur Abhilfe aufzeigt, dann besteht wenig Hoffnung, dass sie überhaupt etwas daran ändern will und wird. Darüber können auch ihre markigen Worte Richtung China nicht hinwegtäuschen.

Wie kann das sein nach mehr als anderthalb Jahren Krieg? Die EU hat die Abkehr von ihrem rein zivilen Selbstverständnis vor dem Krieg eingeleitet. Sie finanziert Waffen, Munition, Ausbildung ukrainischer Soldaten und ist inzwischen die größte Geldgeberin der Ukraine. Es liegt aber noch ein weiter Weg vor ihr, bis sie in der realen Welt angekommen ist.

Langsam beginnt die EU, militärisch zu agieren

Die Bereitschaft, auch militärisch zu agieren, ist nicht zuletzt von der Leyen zu verdanken. Umso verwunderlicher, dass sie sich scheut, den Wandel aktiv und laut voranzutreiben. Wer nimmt eine EU ohne „Hard Power“ auf Dauer ernst als eine der drei globalen Supermächte neben den USA und China?

Wenn die EU sich der Wirklichkeit verweigert und die USA ihr nicht mehr aushelfen, zum Beispiel, weil ein Isolationist wie Donald Trump die Wahl gewinnt, sind die Konsequenzen für die Europäer hart: adieu Sicherheit, adieu Wohlstand, adieu Zukunft.

In den großen globalen Konflikten vermag die EU aus eigener Kraft wenig auszurichten. Die Ukraine wäre verloren. Weder Deutschland noch Frankreich noch EU-Brüssel können die USA als Führungsmacht des Westens ersetzen. Umso energischer sollte sie den Weg der Emanzipation verfolgen.

Die andere große Gefahr droht der EU mit Blick auf ihre Handlungsfähigkeit. Schon heute ist sie mit 27 Mitgliedern oft blockiert, weil einzelne ihr Vetorecht missbrauchen – wie Ungarn mehrfach bei Sanktionen gegen Russland.

Bevor die EU neue Mitglieder aufnehmen kann, muss sie ihre Entscheidungsmechanismen und Institutionen reformieren. Von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker mahnte vor ihrer Rede, die EU sei „nicht zukunftsreif“, wenn es beim Einstimmigkeitsprinzip bleibe.

Auch da hätte von der Leyen antreiben können. Sie weigerte sich jedoch, die Reform zur Vorbedingung der Erweiterung zu machen, und sagte sogar, man könne mit Neuaufnahmen nicht warten, bis sich alle auf eine Vertragsänderung einigen.

Eine Erweiterung auf über 30 Mitglieder ohne Aufgabe des Vetorechts bedeutet den politischen Selbstmord der EU. Mit Montenegro am EU-Tisch, das in China hoch verschuldet ist, könnte indirekt Peking Entscheidungen blockieren. Und mit Serbien indirekt Russland. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen wäre die Lösung.

Von der Leyens Scheu, die Schicksalsfragen Europas in aller Schärfe offenzulegen, ist ein schlechtes Omen für alle, die das große europäische Projekt und Europas Werte für etwas Gutes halten – und auf mehr Europa in der Welt hoffen.

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