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Sonnenschirme und Liegen am Strand von Sant Andrea, Westküste von Elba.

© imago/imagebroker/Karlheinz Irlmeier

Lang lebe der Lido: Die kuriose Streckung der italienischen Küste

Jahrzehntelang dachte man, Italiens Küste erstrecke sich über 8000 Kilometer. Jetzt sollen es auf einmal mehr als 11.000 sein. Die wundersame Streckung der Strände hat einen politischen Grund.

Die italienische Universal-Enzyklopädie Treccani gibt die Länge der Küstenlinie schon seit jeher mit „etwa 8000 Kilometer“ an. Darin eingeschlossen sind die Küsten der großen Inseln Sardinien und Sizilien und auch aller anderen, kleineren Inseln. Dass die Enzyklopädie keine genaue Zahl nennt, liegt daran, dass es letztlich unmöglich ist, die zerklüftete Küste hundertprozentig genau zu vermessen.

Doch genau dieses Kunststück ist nun den Mitgliedern des „technischen Gremiums“ gelungen, das die Rechtsregierung von Giorgia Meloni in der Frage der Strandbad-Konzessionen berät. Laut der Arbeitsgruppe beträgt die Länge der Küste nicht ungefähr 8000 Kilometer, sondern exakt 11.172 Kilometer und 794 Meter.

Dazu muss man wissen, dass die Strandbad-Konzessionen in Italien ein Politikum erster Güte sind und Rom ihretwegen ein Problem mit der EU hat. Es geht um 30.000 „stabilimenti balneari“, wie die Bezahlstrände mit ihren bunten Sonnenschirmen und bequemen Liegen in Italien heißen und ohne die sich Millionen Italienerinnen und Italiener ihren Sommerurlaub nicht vorstellen können.

In der Badesaison beschäftigen die Lidos, wie die Strände heißen, etwa 300.000 Mitarbeiter und verbuchen pro Jahr einen Umsatz von rund 15 Milliarden Euro. Doch in den Augen der EU sind die Bezahlstrände illegal: Weil sie knappen öffentlichen Grund belegen, fallen sie unter die sogenannte Bolkestein-Direktive, die 2006 erlassen wurde. Die staatlichen Konzessionen müssten zur Belebung der Konkurrenz regelmäßig neu ausgeschrieben werden. Das werden sie aber nicht. Alle italienischen Regierungen, egal welcher Couleur, haben sich bisher standhaft geweigert, den Forderungen aus Brüssel nachzukommen. Die Lido-Lobby ist einfach zu stark.

Rimini ist einer der bekanntesten Badeorte in Italien. Hier wird unter anderem auch unter den Augen eines Fitnesstrainers Sport getrieben.

© ddp/Oliver Lang

Viele der Badegäste (die ebenfalls wählen gehen) sähen es nur äußerst ungern, wenn der Betreiber ihres Lidos seine Konzession zum Beispiel an einen chinesischen Tour-Operator verlieren würde, nur weil dieser dem Staat ein besseres Angebot macht.

Auch Giorgia Meloni hat sich immer als Schutzpatronin der „stabilimenti balneari“ hervorgetan; im Wahlkampf hatte die Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia versprochen, dass, wenn sie gewählt werde, ein „Ausverkauf der Lidos nur über meine Leiche erfolgen“ werde. Letzte Woche ist nun aber der EU-Kommission endgültig der Geduldsfaden gerissen: Brüssel hat wegen der Strandbad-Konzessionen einen scharfen Brief nach Rom geschickt und die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Italien eingeleitet.

Und hier kommt die wundersame Streckung der Strände ins Spiel: Falls die italienische Regierung der EU beweisen könnte, dass es sich bei den Stränden gar nicht um ein „knappes Gut“ handelt, dann würden die „stabilimenti balneari“ nicht von der Bolkestein-Direktive erfasst. Tatsächlich belegen die italienischen Lidos „nur“ 2143 Küstenkilometer.

Bei einer Küste von über 11.000 Kilometern wäre dies weniger als ein Fünftel, ein geradezu lächerlich kleiner Teil. Die unerfreuliche Geschichte mit dem Vertragsverletzungsverfahren wäre aus Sicht der italienischen Regierung damit erledigt.

3418
Kilometer beträgt die Gesamtlänge aller Sandstrände in Italien.

Die Umweltschutz-Organisation Legambiente, welcher der Wildwuchs der Bezahlstrände ebenfalls ein Dorn im Auge ist, sieht das freilich ganz anders. Sie macht darauf aufmerksam, dass es – unabhängig davon, ob die Küste nun 8000 oder 11.000 Kilometer lang ist – wenig sachgerecht sei, die gesamte Küstenlinie als Maßstab zu nehmen: Die Konzessionen für die „stabilimenti balneari“ werden fast ausnahmslos für Sandstrände erteilt, nicht für abgelegene, unwegsame Felsenküsten.

Die Gesamtlänge aller Sandstrände in Italien beträgt aber lediglich 3418 Kilometer. Davon belegen die Lidos 63 Prozent, obwohl laut einem italienischen Gesetz nur ein Maximum von 40 Prozent erlaubt wäre. Lidos verstoßen in ihrer heutigen Form und Zahl also nicht nur gegen EU-Recht, sondern auch gegen italienische Vorschriften. Die Umweltschutzorganisation macht noch auf einen weiteren Umstand aufmerksam, der das etwas durchschaubare Manöver Melonis, die Lido-Betreiber vor unerwünschter Konkurrenz zu schützen, in einem ungünstigen Licht erscheinen lässt.

Laut Legambiente sitzen in dem Beratergremium der Regierung, das die Strände neu vermessen hat und dabei die 3000 Kilometer bisher unbekannter Küste entdeckt haben will, nämlich nicht weniger als 24 Vertreter der Lidos – und kein einziger Wissenschaftler.

An der Unabhängigkeit und Kompetenz des Gremiums darf also gezweifelt werden. Es wäre ein Wunder, wenn die EU-Kommission auf Melonis Schlaumeierei hereinfallen würde – ein noch größeres Wunder als die plötzliche Streckung der italienischen Küstenlinie.

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