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Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan.

© Reuters

Heikle Lage an türkisch-syrischer Grenze: Erdogan fordert Russland heraus – und den Westen

Der türkische Präsident droht mit einer neuen Bodenoffensive in Syrien. Er würde damit aufgeben, was seine wichtigsten Partner verlangen: Zurückhaltung.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Der türkische Präsident Erdogan fordert mit seiner Politik im Syrien-Konflikt die Großmächte Russland und USA heraus. Für Moskau und Washington ist die Türkei im Ukraine-Krieg ein wichtiger Partner geworden, den man gerne bei Laune hält – jetzt wirft Erdogan dieses politische Gewicht in die Waagschale, um seine Vorstellungen in Syrien durchzusetzen und seine Chancen bei den Wahlen im kommenden Jahr zu erhöhen.

Erdogans Drohung mit einem neuen Einmarsch in Syrien setzt Russen und Amerikaner unter Druck. Wenn sie einer türkischen Bodenoffensive zustimmen, handeln sie gegen ihre eigenen Interessen in Syrien: Russland will keine weiteren Gebietsverluste für seinen Partner, den syrischen Präsidenten Assad; die USA halten – bisher jedenfalls – zu ihren syrisch-kurdischen Verbündeten von der Miliz YPG, die aus Sicht der Türkei Terroristen sind, aus amerikanischer dagegen unverzichtbare Bundesgenossen im Kampf gegen den Islamischen Staat.

Noch zeigen die Regierungen in Moskau und Washington Verständnis für Erdogan und seinen Ruf nach Vergeltung für den Bombenanschlag von Istanbul. Regierungssprecher in beiden Hauptstädten riefen die Türkei zur Besonnenheit auf, vermieden aber scharf formulierte Warnungen an Ankara.

Auf der anderen Seite achtet auch Erdogan darauf, die beiden wichtigen Länder nicht zu verärgern. Türkische Kampfjets dringen bisher offenbar nicht in den – von Russland und den USA kontrollierten – syrischen Luftraum ein.

Mit einer neuen Bodenoffensive würde Erdogan diese Zurückhaltung jedoch aufgeben. Russland und Amerika haben mehrmals klargestellt, dass sie das nicht wollen, doch nun hat Erdogan seine Drohung bekräftigt.

Die Kurdenpartei sieht in den Luftangriffen in Syrien ein Wahlkampfmanöver

Am Dienstag legte er noch einmal nach und sagte, der Einmarsch solle „so schnell wie möglich“ beginnen. Er bedient seine nationalistischen Anhänger mit Kritik an den USA wegen deren Zusammenarbeit mit der YPG.

Die türkische Kurdenpartei HDP sieht in Erdogans Rhetorik und in den Luftangriffen in Syrien ein Wahlkampfmanöver. Schon in den vergangenen Jahren hatte Erdogan militärische Interventionen in Syrien genutzt, um seinen Ruf bei den Wählern aufzupolieren. Derzeit braucht er besonders wegen der schweren Wirtschaftskrise in der Türkei einen Popularitätsschub.

Doch obwohl die Erfahrung zeigt, dass Erdogan immer die Innenpolitik im Auge hat, wenn er außenpolitisch handelt, geht sein Plan für Syrien über Wahlkampfgetöse hinaus. Der türkische Präsident ist überzeugt, dass er sein Land in den vergangenen Jahren zu einem so starken Akteur auf der internationalen Bühne gemacht hat, dass selbst Russland und die USA türkische Interessen nicht einfach ignorieren können.

Seine Vermittlungsbemühungen im Ukraine-Krieg haben sein Renommee auf beiden Seiten des Konflikts verbessert. Für Kremlchef Putin ist Erdogan der wichtigste westliche Gesprächspartner; zudem kann Russland mit Hilfe der Türkei zumindest einige westliche Sanktionen umgehen. Für Europa und die USA ist Erdogan wichtig, weil er sowohl mit Putin als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj verhandeln kann; der Istanbuler Getreide-Deal hat das gezeigt.

Jetzt sei die „Zeit der Abrechnung“ gekommen, erklärte Erdogans Regierung zu Beginn der Luftangriffe auf die YPG. Ähnliches gilt für die Haltung der Türkei zu USA und Russland: Erdogan will in Syrien die gewachsene Bedeutung der Türkei ummünzen. Sollte die Türkei ihre Soldaten in Syrien einmarschieren lassen, müssten Russland und Amerika entscheiden, ob sie Erdogan in die Parade fahren, oder ob sie ihn gewähren lassen. Der türkische Präsident rechnet offenbar fest damit, dass er seinen Willen bekommt.

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