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Überfordert und überaus benachteiligt sind Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommen.

© dpa/Arno Burgi

Lehrkräftemangel und andere Leerstellen: Der Bildungsbetrug am Schulkind ist verhängnisvoll

Jedes sechste Kind in Brennpunkten besucht vor der Einschulung keine Kita: Das ist fatal. Bildungsbenachteiligung potenziert sich, wenn die Bildungsbürokratie ihre Arbeit nicht macht.

Ein Kommentar von Susanne Vieth-Entus

Sommerloch? Welches Sommerloch? Kaum sind die letzten Schülerinnen und Schüler in die großen Ferien entschwunden (Bayern), sind die ersten (NRW) schon wieder zurück in ihren Klassenzimmern. In Deutschland ist immer Schule.

Lassen Sie uns also über Schule reden. Das bunte Durcheinander der 16 bundesrepublikanischen Länderferien spült jede Woche ein paar neue Facetten des größten deutschen Schulproblems, des Lehrkräftemangel, an die Oberfläche der Berichterstattung.

So lenkt die Wübbenstiftung die Aufmerksamkeit aktuell darauf, dass bundesweit 17 Prozent der deutschen Erstklässler an sozialen Brennpunktschulen vor Schulbeginn keine Kita besucht haben.

Die Zeiten, in denen sie in ihren Grundschulen zuverlässig auf Lehrkräfte trafen, die gelernt haben, Deutsch zu vermitteln und zu alphabetisieren, sind vorbei. Diese Kinder verlieren Chancen, von Anfang an.

Schnelle Lösungen müssen her

Wo schnelle Hilfe gefragt ist, halten sich Verbände und Politiker allerdings weiterhin damit auf, an der Lehrkräfteausbildung herumschrauben zu wollen.

Wer gerade nicht in sein Sommerhaus zwischen Schweden und der Toscana entschwunden ist, beschenkt die Öffentlichkeit mit Tipps wie der Abschaffung der Bachelor-Master-Ausbildung zugunsten des Staatsexamens für Lehrkräfte. Andere beschwören die Rückkehr der Pädagogischen Hochschulen oder die Einführung dualer Lehramtsstudiengänge.

All diese – prinzipiell diskutablen oder sogar richtigen – Vorschläge haben den immensen Schönheitsfehler, dass ihre Umsetzung viele Jahre in Anspruch nehmen würde.

Viel weniger spektakulär, aber dafür kurzfristig machbar wäre ein ganzer Strauß von Möglichkeiten, die längst bekannt sind, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht oder jedenfalls nicht überall verfolgt werden. Mal sitzen die Kultusministerien im Mauseloch vor den Gewerkschaften, mal sind sie einfach zu bequem, um die eingefahrenen Wege zu verlassen.   

54
Prozent der bundesdeutschen Lehrkräfte arbeiten in Vollzeit.

So haben es bisher nur wenige Bundesländer gewagt, die liberalen Teilzeitregelungen infrage zustellen. Lieber setzt die Mehrzahl der deutschen Bildungsministerinnen und -minister die ihnen anvertrauten Kinder einem Lehrkräftemangel aus, der an Bildungsbetrug grenzt, als dass mancherorts auch nur eine einzige Arbeitsgruppe der Frage nachginge, wie Teilzeitkräfte, die weder Kinder noch Eltern pflegen müssen, zu einer minimalen Erhöhung ihrer Unterrichtsstunden zu überreden wären.

Nur 54 Prozent der bundesdeutschen Lehrkräfte arbeiten in Vollzeit, hatte die Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz festgestellt.

Assistenzen könnten mehr zur Entlastung beitragen

Ähnlich verhält es sich mit der Möglichkeit, dem ausgedünnten Lehrkörper durch qualifizierte Förderkräfte mehr Power zu geben. Diese sogenannten Assistenzen könnten bei der Alphabetisierung helfen oder bei der Inklusion, sie könnten die gefürchteten „Systemsprenger“ aus ihren Klassen holen und so allen Seiten zu einer Verschnaufpause verhelfen.

Warum sich kaum eines der 16 Bundesländer dieses Instruments im maximal möglichen Ausmaß bedient, gehört zu den vielen Rätseln des deutschen Bildungswesens.

Aber zurück zur Wübbenstiftung – weist sie doch darauf hin, dass das Problem des Lehrkräftemangels weniger verheerende Folgen hätte, wenn die Erstklässler vor der Einschulung in Kitas Deutsch gelernt hätten. Anders gesagt: Bundesländer, die ihren Kindern nicht genügend qualifizierte Grundschullehrkräfte bieten können, müssen zumindest alles für eine zu 100 Prozent gesicherte vorschulische Bildung tun.

Hamburg macht seit langem vor, dass das geht: Wer kein Deutsch kann und keinen Kitaplatz hat, besucht verpflichtend die Vorschule. Zu den Ergebnissen gehört, dass die Hansestadt im Bundesvergleich immer bessere Schulleistungen bringt.

Auch Berlin hat schon vor über 15 Jahren begriffen, dass es ein verhängnisvoller Fehler ist, Kinder unvorbereitet in die erste Klasse zu schicken. Seither gilt die gesetzliche Pflicht für einen 18-monatigen Kitabesuch, ersatzweise kann es auch eine Sprachförderung außerhalb der Kita sein. Das Ergebnis im aktuellen Jahr: Von 3000 „Nichtkitakindern“ ist nur für rund 200 bekannt, dass sie vorschulisch gefördert werden.

Ein Beispiel von vielen, das zeigt: Es gäbe viele Möglichkeiten, die Not der Kinder zu dämpfen. Sofort. Unverzüglich. Ohne die Reform von Studiengängen. Die Bürokratien der Jugend- und Schulämter sowie die angeschlossenen Ministerien brauchen allerdings mehr Tatkraft, mehr Empathie und mehr Mut.

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