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Wagner-Soldaten umgeben von Zivilisten in Rostow.

© AFP/Stringer

Prigoschins russisches Roulette: Ein geschwächter Putin, eine geschwächte Armeeführung – und Kiew profitiert

Der Wagner-Chef hat den Putsch nicht bis zum Ende geführt. Doch ein Zurück kann es weder für ihn noch für den Moskauer Machtzirkel geben. Eine gute Nachricht für die Ukraine.

Ein Kommentar von Benjamin Reuter

Es war wohl kein Zufall, dass die Ukraine am Samstagnachmittag eine Mitteilung über Geländegewinne im Donbass nachholte. Rund eine Woche waren die schon her. Kiews Truppen hatten Gebiete nahe der Kleinstadt Krasnogorowka eingenommen.

Wahrscheinlich ist es das erste Mal in diesem Krieg, dass die Ukraine Land zurückholt, das Moskaus Truppen schon im Jahr 2014 besetzten. Die russisch verwaltete Provinzhauptstadt Donezk ist nur wenige Kilometer entfernt. Das Signal: So weit ist es mit Russlands Feldzug schon gekommen. Das galt an diesem Samstag auch für die anderen Ereignisse in Zusammenhang mit dem Krieg.

Am Samstagnachmittag näherten sich Berichten zufolge bis zu 5000 Kämpfer der Söldnereinheit Wagner der russischen Hauptstadt Moskau. Das Ziel der Truppe, so zumindest hatte es ihr Chef Jewgeni Prigoschin am Freitagabend formuliert: die Absetzung und Bestrafung der Spitze der russischen Armeeführung, des Verteidigungsministers Sergej Schoigu und des russischen Generalstabschefs Waleri Gerassimow.

Dass Prigoschin seine Truppen am Samstagabend kurz vor Moskau zurückpfeifen würde, war da noch nicht abzusehen. Mancher Beobachter hatte schon Putins letztes (politisches) Stündlein eingeläutet – gestürzt durch den Putsch Prigoschins.

Dieses vom Pressedienst von Jewgeni Prigoschin zur Verfügung gestellte Videostandbild zeigt den Wagner-Chef bei einer Videoansprache.
Dieses vom Pressedienst von Jewgeni Prigoschin zur Verfügung gestellte Videostandbild zeigt den Wagner-Chef bei einer Videoansprache.

© dpa/Uncredited

Selbst in diesem an Überraschungen nicht armen Krieg bot dieser Samstag ein ungewöhnliches Schauspiel. Es war ein Tag, der seine Schatten bis weit in die nächsten Kriegsmonate werfen könnte. Denn auf dem Weg der Söldner nach Moskau war für putinsche Verhältnisse schier Unvorstellbares passiert.

Prigoschins Männer hatten am Samstagmorgen zahlreiche Militäreinrichtungen in der strategisch wichtigen südrussischen Stadt Rostow am Don besetzt. Bewohner brachten den Milizionären dort Wasser und Essen.

Der Wagner-Chef hatte zuvor die Gründe für die Ukraine-Invasion als „Lüge“ bezeichnet, und war Putin – das erste Mal – persönlich angegangen. „Der Präsident irrt sich schwer“, hatte Prigoschin festgestellt.

Dass die Söldner auf ihrem Weg nach Moskau sechs russische Helikopter und sogar ein Überwachungsflugzeug abgeschossen hatten und mehr als ein Dutzend Soldaten töteten, aber ansonsten von den Sicherheitsorganen ziemlich unbehelligt einige hundert Kilometer mit Panzern und Luftabwehrgeschützen zurücklegten, ließ die politische und militärische Führung in Moskau nicht besser aussehen.

Rostow am Don: Kämpfer der Söldner-Gruppe Wagner bewachen einen Bereich im Hauptquartier des südlichen Militärbezirks.
Rostow am Don: Kämpfer der Söldner-Gruppe Wagner bewachen einen Bereich im Hauptquartier des südlichen Militärbezirks.

© dpa/-

Der Kriegsherr im Kreml reagierte entsprechend. Nachdem der russische Präsident im Fernsehen den Söldnern Hochverrat vorgeworfen und von einer „bewaffneten Rebellion“ gesprochen hatte, kündigte er an, dass die Köpfe des Aufstandes „zur Verantwortung gezogen würden vor Gesetz und Volk“. Zuvor bezeichnete Putin den Vormarsch der Wagner-Kämpfer als „Dolchstoß in den Rücken“, als „Verrat“ an Russland. 

Zwei vermeintliche starke Männer sehen auf einmal schwach aus

Von Putins Entschlossenheit war einige Stunden später nichts mehr zu spüren. Nachdem Prigoschin seine Söldner zurückbeordert hatte, verkündete der Kreml, dass sowohl das Verfahren gegen Prigoschin eingestellt werde als auch die an der Aktion beteiligten Wagner-Kämpfer straffrei bleiben würden. Prigoschin muss allerdings ins Exil nach Belarus. Ein Deal, den wohl der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko eingefädelt hatte.

Putin und Prigoschin – zwei Männer, die in ihrem Handeln nur dem Gesetz der Stärke und der Gewalt verpflichtet sind –, sahen plötzlich ganz schwach aus. Es ist unwahrscheinlich, dass beide sich diesen Moment verzeihen werden.

Polizisten stehen Wache auf dem Roten Platz in Moskau.
Polizisten stehen Wache auf dem Roten Platz in Moskau.

© dpa/Bai Xueqi

Putins Plan, Kiew in wenigen Tagen einzunehmen und Teile des untergegangenen großrussischen Reiches wiederherzustellen, mündete am Samstag also darin, dass russische Söldner-Kolonnen den Sturm auf Moskau wagten oder zumindest andeuteten und die Ukraine seit fast zehn Jahren besetztes Gebiet zurückeroberte. Ob der Kremlherrscher in solchen Momenten zur Selbstreflexion fähig ist? Oder diejenigen, die ihn bisher stützen?

Prigoschin hatte Erfolg auf dem Schlachtfeld, das machte ihn wertvoll

Putin hat erstaunlich lange an Prigoschin festgehalten. Wohl, weil die Söldnertruppe schaffte, was der regulären russischen Armee nicht mehr gelang: Sie konnte Erfolge auf dem Schlachtfeld vorweisen. Das lag vor allem an ihrer selbstmörderischen Strategie – allein im Kampf um Bachmut sollen 20.000 Russen gefallen sein. Verluste, die die reguläre russische Armee nach den verheerenden ersten Monaten der Offensive offensichtlich nicht mehr bereit ist, hinzunehmen.

Der Ausweg für die Armeeführung aus Schoigu und Gerassimow in Moskau: Wir stellen Wagner und die zahlreichen anderen auf dem Schlachtfeld operierenden Söldnertruppen unter unser Kommando. So wäre die russische Armee mit einem Schlag um einige zehntausend Mann angewachsen und – so zynisch muss es gesagt werden – ein neues Reservoir für Kanonenfutter gefunden.

Wladimir Putin wirft Jewgeni Prigoschin Meuterei und Verrat vor.
Wladimir Putin wirft Jewgeni Prigoschin Meuterei und Verrat vor.

© dpa/Gavriil Grigorov

Doch daraus wurde vorerst nichts. Der Schritt hätte zu einer Entmachtung Prigoschins geführt und ihn angreifbar für seine Feinde im Verteidigungsministerium gemacht – Prigoschin hatte über Monate immer wieder die Inkompetenz der Militärführung angeprangert. Der Wagner-Chef, früher der Caterer Putins, ging in die Vorwärtsverteidigung.

Für die Ukraine ist der russische Chaos-Samstag eine gute Nachricht. Putin ist geschwächt und bisher ist alles andere als klar, dass die neue Wagner-Führung – nun wohl doch das Verteidigungsministerium – vorherige Erfolge auf dem Schlachtfeld wiederholen kann. Zu verhasst war der russische Generalstab bei vielen in der Söldnertruppe. Wagner könnte damit Geschichte sein.

Auch in der regulären Armee muss der Aufstand bei vielen Soldaten einen faden Beigeschmack und Verunsicherung hinterlassen. Prigoschin könnte hier zum Vorbild werden, um sich gegen verantwortungslose Kommandeure, schlechte Versorgung und einen sinnlosen Kampf aufzulehnen. Die „militärische Spezialoperation“, nur dazu da, um die Armeeführung in Moskau zu bereichern, wie Prigoschin behauptet – wer will dafür schon im Schützengraben sterben?

Sicher, eine breitflächige Meuterei der Soldaten wird eher nicht die Folge dieses Wochenendes sein – aber jeder Zweifel in den russischen Reihen, jeder Zwist, kann den Ukrainern willkommen sein.

Dass Prigoschin in Russland noch einmal eine Rolle spielt, ist schwer vorstellbar. Aber wer weiß, vielleicht ist das Kapitel doch noch nicht geschlossen. Als der Wagner-Chef in der Nacht zu Sonntag sein Quartier in Rostow am Don verließ, um in Richtung Belarus aufzubrechen, wurde er von umstehenden Zivilisten bejubelt. Ebenso seine Kämpfer, die auf Pick-up-Trucks in die Nacht fuhren.

Hinweis: Die Wagner-Kämpfer haben auf ihrem Weg nach Moskau nicht ein Kampfflugzeug abgeschossen, wie behauptet, sondern ein Überwachungsflugzeug. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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