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Ein Termin jagt den anderen: Boris Pistorius ist in den ersten 100 Tagen gut beschäftigt.

© action press/Chris Emil Jan√üen

100 Tage Verteidigungsminister: Wie Pistorius von der Notlösung zum Hoffnungsträger wurde

Boris Pistorius ist an diesem Samstag 100 Tage im Amt. Durch den schlechten Ruf seiner Vorgängerin hatte er vergleichsweise leichtes Spiel. Die Vorlage hat er eindrucksvoll genutzt.

Der Termin am Freitagnachmittag steht für die Selbstverständlichkeit, mit der Boris Pistorius Dinge anders macht. Der Verteidigungsminister ist extra eingeflogen. Am Fliegerhorst der Luftwaffe im niedersächsischen Wunstorf begrüßt er die Einsatzkräfte der Sudan-Evakuierungsoperation zurück in Deutschland.

Im Sommer 2021, als noch dramatischere Rettungsflüge aus der afghanischen Hauptstadt Kabul hinter den deutschen Soldatinnen und Soldaten lagen, wartete am selben Ort kein Vertreter der Bundesregierung auf sie.

Fettnäpfchen dieser Art hat Pistorius auch schon im Vorfeld der Sudan-Mission elegant umschifft. Er hätte schließlich im fernen Washington weilen können, während die eigene Truppe in Afrika Kopf und Kragen riskiert. „Ihm musste niemand sagen, dass er wegen des bevorstehenden Sudan-Einsatzes seine USA-Reise absagen sollte“, heißt es in seinem Umfeld: „Diesen politischen Instinkt hat er selbst.“

Das Phänomen Pistorius – binnen kürzester Zeit ist er vom mittelbekannten Landesinnenminister Niedersachsens zum umfragebeliebtesten Politiker des Landes aufgestiegen – lässt sich nicht ohne dieses Fingerspitzengefühl für vermeintliche Kleinigkeiten verstehen. Seiner direkten Vorgängerin Christine Lambrecht fehlte es bekanntlich. Sie ist ein Grund dafür, warum der Sozialdemokrat, an diesem Samstag 100 Tage im Amt, nun so glänzen kann.

Auch sie bemühte sich in der Zeitenwende um schnelle Nachrüstung. Auch sie organisierte Hilfe für Kiew, versuchte die Bundeswehr zu modernisieren. Überlagert aber wurde das von einer Fülle unglücklicher Auftritte: Weihnachtsferien statt Truppenbesuch.

In Pumps beim Einsatzkontingent in der malischen Wüste, wo festes Schuhwerk vorgeschrieben ist. Der Hubschrauberflug ihres Sohnes. Die auch nicht immer faire mediale Entrüstung ließ sie zunehmend unsicher wirken. Ihr bizarres Silvestervideo wirkt im Nachhinein wie ein Hilferuf.

Zur Vorgeschichte von Pistorius’ Höhenflug gehört auch, dass er nicht die erste Wahl von Olaf Scholz war, als der Mitte Januar ein Einsehen hatte. Zumindest ist verbürgt, dass es vor dem Kanzleranruf in Hannover Absagen aus der SPD gab. CDU-Fraktionsvize Johann Wadephul lästerte über die „B-Lösung“.

Von der B-Lösung zum Alphatier

Zum Alphatier konnte Pistorius auch so schnell werden, weil die Republik in einer Lage, in der es auf die Bundeswehr ankommt wie lange nicht mehr, jemand an deren Spitze herbeisehnte, der Sicherheit und Zuversicht ausstrahlt. Der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt sollte nicht selbst Gegenstand von Kritik aus dem In- und Ausland sein, sondern sich voll dem Krieg und seinen Folgen widmen.

Boris Pistorius hat sich mit voller Kraft in die neue Aufgabe gestürzt, die er wohl als den Job seines Lebens empfindet. Truppenbesuche, Gespräche mit den wichtigsten Verbündeten, dem Parlament, im eigenen Haus – Mitarbeiter berichten von abendlichen Runden, in denen bei manchem nach einem langen Arbeitstag die Konzentration nachließ, nicht aber beim Chef.

Auch an diesem Freitagabend geht ihm noch nicht die Puste aus. Nach seiner Dankesrede unterhält er sich mit Soldatinnen und Soldaten. Mehr Selfies wollen diese nur von Außenministerin Annalena Baerbock, die Pistorius begleitet.

Ohne die Last der Panzerfrage

Leichtes Spiel hat er nicht nur gehabt, weil er nahbar, ja fast kumpelhaft auftritt und im Gegensatz zur Vorgängerin die Öffentlichkeit aktiv sucht. Die schwerste Last, die sie zu tragen hatte, wurde ihm erst gar nicht auf die Schultern gelegt.

Gleich in Pistorius’ ersten Amtstagen fiel die über Monate erbittert diskutierte Grundsatzentscheidung der Bundesregierung, Kiew auch Leopard-Kampfpanzer zu liefern. Vorbereitet und getroffen wurde sie von Kanzler Scholz, Parteifreund Pistorius musste sich die beißende Kritik an der deutschen Zögerlichkeit aus Kiew, Warschau und dem eigenen Parlament gar nicht mehr anhören.

18
Leopard-2-Panzer gab Pistorius aus Bundeswehr-Beständen ab

Aber auch ein leichtes Spiel will erst einmal gewonnen werden. Als die „Panzerallianz“ weniger Unterstützer fand als zuerst gedacht, entschied der neue Minister pragmatisch, dass die Bundeswehr 18 statt 14 Leopard 2 aus ihren Beständen abgeben würde. Den Export älterer Leopard-1-Modelle der Industrie brachte er ebenso auf den Weg wie ein Reparaturzentrum in Polen. Statt harscher Worte gab es nun Lob aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die Pistorius im Gegensatz zu Lambrecht frühzeitig besuchte.

An eigenen Akzenten herrscht auch sonst kein Mangel. Auf die heiß diskutierte Frage nach dem militärischen Ziel etwa gibt er eine andere Antwort als zuvor Lambrecht und auch Scholz. Sie sagen, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren. „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“, sagte dagegen Pistorius auf der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar.

Die Lage in der Ukraine ist fragil, mit der relativen Ruhe rund um die deutsche Militärhilfe kann es auch schnell wieder vorbei sein. Dann wäre auch für Pistorius erster Ärger in dieser Frage programmiert. Vorerst aber ist seine Popularität in der eigenen Ampelkoalition ungebrochen – die Grünen-Verteidigungspolitikerin Sara Nanni sieht „keine Versäumnisse“ und attestiert ihm „ein guter Minister“ zu sein. Und neuerdings findet auch CDU-Mann Wadephul lobende Worte.

In wenigen Wochen hat er das Amt schon stärker auf Effizienz getrimmt, als seine drei Amtsvorgängerinnen zusammen.

Alexander Müller, verteidigungspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion

Die Beliebtheit rührt auch von einer erst kürzlich zutage getretenen Eigenschaft her. „Er agiert wie ein Manager, stellt die richtigen Fragen, und korrigiert die Prozesse, die zu kompliziert sind“, schwärmt etwa der FDP-Verteidigungspolitiker Alexander Müller: „In wenigen Wochen hat er das Amt schon stärker auf Effizienz getrimmt, als seine drei Amtsvorgängerinnen zusammen..“ 

Gemeint ist, wie Pistorius sein Haus im Allgemeinen und das Beschaffungswesen im Speziellen neu aufstellt. Die Waffenhilfe für Kiew hat schließlich ein Riesenproblem der Bundeswehr noch verschärft. Der ohnehin nicht vollständige Gerätefuhrpark wurde weiter ausgedünnt, was schnelle Nachbestellungen und Neuanschaffungen noch dringender macht als zuvor.

Eine kleine Verwaltungsrevolution angezettelt

Erst diese Woche hat Pistorius in seinem Haus gar eine kleine Revolution angezettelt. Mit zwei internen Erlassen wurden Soldaten wie Beamte angewiesen, Waffensysteme nicht mit Sonderwünschen zu überfrachten und auf dem Markt verfügbare Rüstungsprodukte zu bestellen. Einfach „ausgesetzt“ wurden interne Regeln, die gesetzliche Pflichten noch verschärfen. Macht ihm die Industrie mit Produktionsverzögerungen und Kostenexplosionen nicht noch einen Strich durch die Rechnung, könnte das die Dinge tatsächlich beschleunigen.

Diese kleine Revolution kam zu einem Zeitpunkt, da sein Ministerium gerade noch einen anderen Umbau verdauen musste. Mit dem Brigadegeneral Christian Freuding berief Pistorius einen Militär an die Spitze des neu geschaffenen Planungs- und Führungsstabes.

Das wird bei einigen im Haus unter anderem deshalb kritisch gesehen, weil Freuding kein ziviler Beamter ist. Pistorius gibt sich jedoch fest überzeugt, dass der Brigadegeneral für die große Aufgabe der Richtige ist. In der Sommerpause will sich der Minister dann weitere Abteilungen vornehmen. Da ihm im Haus noch Ärger ins Haus stehen.

Offen ist auch noch, wie der Senkrechtstarter der deutschen Politik mit Geld umgehen kann. Beziehungsweise ob er so viel bekommt, wie er braucht und auch schon öffentlich gefordert hat. Im Jahr 2024, in dem Deutschland das Nato-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigungspolitik erreichen soll, will er knapp zehn Milliarden Euro mehr in seinem Etat stehen haben.

Kanzler Scholz und Finanzminister Christian Lindner (FDP) unterstützen das Haushaltsplus zwar generell - ob es so üppig ausfällt, wie sich Pistorius das wünscht, ist angesichts der Kassenlage aber nicht ausgemacht. Je kleiner es ausfällt, umso mehr Geld aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen muss er in konkrete Projekte übersetzen, um sich im Bündnis nicht zu blamieren.

Im Augenblick ist er davon noch maximal weit entfernt. Das ZDF-Politbarometer hat ihn vergangene Woche wieder auf Platz 1 unter Deutschlands Politikerinnen und Politikern geführt. Er liegt klar vor dem Kanzler und Baerbock.

Im Flugzeughangar von Wunstorf erzählt Pistorius, dass er zumindest eine kurze Verschnaufpause hinter sich hat - über Ostern war er Wandern in Südtirol. Als er drei Monate im Amt war, hatte er das auf dem Schirm, wie er sagt, „die 100 Tage nicht“. Pistorius freut sich, wenn seine Arbeit gut ankommt, mehr will er sich nicht darauf einbilden. „Ich mache das nicht, um der beliebteste Politiker zu werden“, sagt er dem Tagesspiegel: „Ich weiß es geht auch wieder runter.“

Noch geht es weiter nach oben. Wohin das alles noch führt? An Ehrgeiz jedenfalls mangelt es Boris Pistorius nicht. Schon 2019 strebte er von Hannover aus nach Höherem, bewarb sich um den SPD-Vorsitz, landete beim Mitgliedervotum im Team mit Petra Köpping aber nur auf dem fünften Rang. Bei zukünftigen Personalentscheidungen könnte der 63-Jährige deutlich höher gehandelt werden.

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