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Wladimir Putin leitet eine Sitzung mit Regierungsmitgliedern per Videolink im Kreml.

© via REUTERS/Kreml/Mikhail Klimentyev/Sputnik

Braucht der Kremlchef einen Plan D?: „Verlust des Südens würde Putin zu schwierigen Entscheidungen zwingen“

Russland gerät in Cherson zunehmend unter Druck. Truppen aus dem Donbass sollen offenbar helfen, die Stellung zu halten. Doch wer übernimmt deren Aufgaben?

Nach Darstellung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace tut sich Russland im Krieg gegen die Ukraine derzeit in vielen Bereichen schwer. „Putins Plan A, B und C ist gescheitert, und er könnte sich nach Plan D umsehen“, sagte er dem Fernsehsender Sky News. Aber wo liegen derzeit eigentlich die Probleme der russischen Streitkräfte?

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Einen Grund für das „russische Scheitern“ nannte das britische Verteidigungsministerium schon in seinem Lagebericht am Donnerstag: Nach anhaltenden ukrainischen Raketenangriffen auf die einzigen drei Brücken, die das Gebiet um die russisch besetzte Großstadt Cherson mit anderen besetzten Teilen der Ukraine verbinden, sei die Antonovsky-Autobrücke „unbrauchbar“.

Bereits seit den ersten Kriegstagen halten Truppen aus der im Süden angrenzenden und von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim die Region Cherson besetzt. Die Brücken bilden wichtige Nachschubrouten für die russischen Besatzer im Gebiet nördlich des Flusses Dnepr, zu dem auch die Regionalhauptstadt Cherson gehört.

Die Nachschubrouten sind nun in Gefahr, weil die ukrainische Armee mit den von den USA gelieferten Himars-Raketenwerfern die Verkehrsinfrastruktur im besetzten Gebiet unter Beschuss nimmt. Die westlichen Waffenlieferungen entfalten ihre erwünschte Wirkung. Bilder und Videos auf Twitter zeigen Löcher in der Fahrbahn.

Bei den Angriffen seien „alle drei von Russland kontrollierten Brücken, die in die Stadt Cherson führen, beschädigt“ worden, schrieben die US-Militärexperten vom Think-Tank „Institute for the Study of War“ (ISW) in ihrem Lagebericht am vergangenen Sonntag. Die russischen Truppen seien „praktisch von den anderen besetzten Gebieten abgeschnitten“ und „sehen sehr verwundbar aus“, konstatieren die Briten.

Putin zunehmend unter Druck

Die ukrainische Gegenoffensive in Cherson setzt Putin unter Druck. „Der Verlust des Südens würde Putin und seine militärischen Befehlshaber zu schwierigen strategischen Entscheidungen zwingen“, sagt der australische Militärexperte und Ex-General Mick Ryan dem Tagesspiegel. Wenn der Gegenangriff erfolgreich ist, dann liegt der russische Marinestützpunkt in Sewastopol in Reichweite der ukrainischen Langstreckenwaffen, merkt Ryan an.

Sewastopol liegt an der Südwestspitze der von Russland 2014 widerrechtlich annektierten Krim. Der Marinehafen dort ist der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Ein russischer Rückzug von der Krim würde „erhebliche politische Auswirkungen für Putin im eigenen Land haben“, sagt Ryan. „Bleibt Russland jedoch auf der Krim, wird es seine Streitkräfte im Osten weiter ausdünnen müssen, um mehr Verteidiger auf die Krim zu schicken.“

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Einem hochrangigen Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge habe Russland bereits mit einer „massiven Verlegung“ von Truppen in Richtung Südukraine begonnen.

Doch ob es sich Russland leisten kann, seine Truppen im Donbass zu verringern, ist unklar. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte die Eroberung der Region im Mai noch als „bedingungslose Priorität“ bezeichnet. Karten des Kriegsverlaufes zeigen aber keine bedeutenden Gebietsgewinne der russischen Truppen – seit sie Anfang Juli den Oblast Luhansk komplett besetzt haben.

„Es scheint, dass die Fähigkeit der Russen, sich vorwärts zu bewegen, nachlässt“, zitiert die „Washington Post“ den Kriegsforscher Phillips O'Brien. „Ich glaube nicht, dass sie im Donbass noch viel weiter vorrücken können.“ Grund könnte der Mangel an Soldaten sein.

US-Geheimdienste rechnen mit hoher Anzahl toter Russen

Nach Schätzungen der USA sind im Ukraine-Krieg bislang etwa 75.000 Russen getötet oder verletzt worden, sagte Elissa Slotkin, demokratische Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus, nach einem geheimen Briefing dem Nachrichtensender CNN.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bezeichnete die Zahlen als „Fake“. Aktuelle Angaben der russischen Behörden zu Totenzahlen gibt es nicht. Die letzten Zahlen stammen von Ende März. Damals sprach das Verteidigungsministerium von 1351 getöteten Soldaten. Seitdem: Schweigen.

Ursprünglich schätzten US-Geheimdienste die Anzahl der russischen Soldaten im Ukraine-Krieg auf 150.000 bis 190.000 Personen. Es gibt mehrere Anzeichen, dass die russische Armee händeringend nach neuen Soldaten für den Krieg in der Ukraine sucht.

Russland fehlt es offenbar an Soldaten

So hat das russische Parlament schon im Mai eine Ausweitung der Rekrutierungsmaßnahmen beschlossen. Die Duma strich damals die Altersbegrenzung für Berufssoldaten. Alle Bürger bis 65 Jahre können nun in der Armee dienen. Eine Generalmobilmachung gibt es allerdings noch nicht.

Kadetten bei der Generalprobe der Parade auf dem Roten Platz anlässlich des 77. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg.
Kadetten bei der Generalprobe der Parade auf dem Roten Platz anlässlich des 77. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg.

© picture alliance / Picvario LLC

Als weiteres Anzeichen für die Personalnot nennt das ISW eine Mitteilung des ukrainischen Verteidigungsgeheimdienstes, wonach Freiwilligenbataillone aus vielen russischen Regionen an die Front geschickt werden – teilweise ohne „angemessene Ausbildung“. Der ISW habe mittlerweile 20 Regionen ermittelt, in denen diese Rekrutierungspraxis angewendet werde.

Zudem berichtete der ukrainische Verteidigungsgeheimdienst über „die Massenvergabe des Offiziersrangs Unterleutnant an Unteroffiziere ohne einschlägige Erfahrung und Ausbildung“. Ein Indiz, dass es der russischen Armee offenbar nicht nur an einfachen Soldaten mangelt.

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Schon Mitte Juli schrieb das britische Verteidigungsministerium in seinem Geheimdienst-Update: „Personalmangel bei den russischen Streitkräften könnte das russische Verteidigungsministerium dazu zwingen, zu unkonventionellen Rekrutierungsmethoden zu greifen.“ Dazu gehöre die Rekrutierung in Gefängnissen für die Söldnertruppe Wagner.

Eben diese berüchtigte Söldner-Organisation soll nun für ganze Frontabschnitte in der Ostukraine verantwortlich sein, wie das britische Verteidigungsministerium in ihrem neuesten Geheimdienst-Update mitteilt. „Die Rolle von Wagner hat sich wahrscheinlich geändert, weil das russische Verteidigungsministerium einen großen Mangel an Kampfinfanterie hat.“ Es sei jedoch „sehr unwahrscheinlich“, dass die Wagner-Kräfte ausreichen, um den Verlauf des Krieges entscheidend zu beeinflussen. (mit Agenturen)

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