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Auf dem Maidan im Zentrum von Kiew stehen zerstörte russische Panzer (Symboldbild).

© dpa/David Goldman

„Ich erinnere mich genau an das erste Blutvergießen“: Vier Ukrainer erzählen von ihrem prägendsten Moment im Krieg

Ein halbes Jahr dauert der Ukraine-Krieg bereits. In dieser Zeit hat sich der Alltag der Ukrainer komplett verändert. Hier erzählen vier vom Wendepunkt in ihrem Leben.

Eine Witwe, die ihren Mann im Kampf gegen russische Soldaten verloren hat, ein Mann, der sich im besetzten Luhansk vor den Russen versteckt, eine Journalistin, die vor den Besatzern fliehen musste und ein Soldat, der sich an das erste Blutvergießen erinnert, das er sah: Der Tagesspiegel hat vier Ukrainer:innen gefragt, welcher Moment in den vergangenen sechs Monaten des russischen Angriffskrieges sie am meisten geprägt hat.

Tamara Yanina, Witwe

„Am eindrücklichsten erinnere ich mich an den ersten Tag des Krieges. Alle Gedanken vermischten sich und es war schwierig, sich zu konzentrieren. Alle Radiosender sendeten ununterbrochen Nachrichten über Beschüsse, über eine Invasion im großen Stil.

Tamara Yanina, die Witwe eines Asow-Kämpfers.
Tamara Yanina, die Witwe eines Asow-Kämpfers.

© privat

Um mich herum herrschte Panik, vermischt mit dem Gefühl, zusammenzuhalten. Warteschlangen formten sich bei der militärischen Registrierung und den territorialen Verteidigungseinheiten, ständig bekam ich Anrufe von Angehörigen. Und ich musste immer an meinen Mann denken, der in Mariupol war ...

An jenem Tag, dem 24. Februar, war ich an das Radio gekettet und hörte, was im Land geschah. Der Gedanke, das Land zu verlassen, kam mir nicht in den Sinn – mein Mann ist an der Front, im Krieg, und das heißt, ich bin auch an der Heimatfront. Mein Mann hat mir verboten, ihn anzurufen, er würde sich selbst melden. Er rief an diesem Tag häufig an. Mittlerweile ist er tot.“


Oksana Naumova, Journalistin aus der besetzten Stadt Cherson

„Der wichtigste Moment war meine Flucht aus dem russisch besetzten Cherson auf ukrainisches Gebiet. Es war keine einfache Reise. Mehrere Tage unter der brennenden Sonne der Südukraine in der Steppe, kilometerlange Autoschlangen, zwei Dutzend russische Kontrollpunkte, an denen man angehalten wurde, seine Dokumente zeigen und sein Telefon durchsuchen lassen musste.

Oksana Naumova, Journalistin aus Cherson, lebt mittlerweile in Kiew.
Oksana Naumova, Journalistin aus Cherson, lebt mittlerweile in Kiew.

© Foto: privat

Das war sowohl körperlich als auch psychisch sehr unangenehm. Deshalb werde ich mich für den Rest meines Lebens an den Moment erinnern, als ich am dritten Tag meiner Reise endlich den ersten ukrainischen Kontrollpunkt und die gelb-blaue ukrainische Flagge sah. Ich wollte ihn küssen. Tränen kullerten über meine Wangen. Es waren Tränen der Freude, dass ich in meiner ukrainischen Heimat war.“


Konstantin Rybnikov, Soldat in der ukrainischen Armee

„Ich erinnere mich noch genau an das erste Blutvergießen, dessen Zeuge ich wurde. Es war der vierte Tag der groß angelegten russischen Invasion. Die frisch gebildete Territorialverteidigungseinheit, deren Teil ich war, bewegte sich vorsichtig durch die leeren Straßen von Kyiv. Wir waren auf dem Weg zu einem Ort, an dem wir unsere Schusswaffen erhalten sollten. Alle waren noch verwirrt und wussten nicht, was sie erwartete. Die Nachrichten waren voller Berichte über russische Agenten, die inkognito auf den Straßen Gräueltaten verübten.

Konstantin Rybnikov, Soldat in der ukrainischen Armee.
Konstantin Rybnikov, Soldat in der ukrainischen Armee.

© privat

Auf unserem Weg stand ein Lebensmittellieferwagen in der Nähe eines Supermarktes. Der Fahrersitz war leer, das vordere Fenster war zerbrochen, die Tür stand offen und unter der Tür breitete sich eine dicke rote Blutlache aus …

Jetzt, sechs Monate später, sagt mir mein Bauchgefühl, dass ein versehentlicher Schuss den Fahrer umbrachte. Es war nicht der letzte, den ich erlebt habe. Eine weitere hässliche Form von Kollateralschäden, über die man nachdenken muss, wenn sich die Angreifer irgendwann zurückziehen.“


Mann aus Luhansk, anonym

„Eine Woche bevor der Krieg ausbrach, starb meine Mutter in Luhansk. Zum Glück konnten wir sie noch vorher beerdigen. Doch mit dem 24. Februar, als der Krieg und damit die Mobilisierung begannen, wurde alles noch schwerer für mich. Von nun an konnte ich nicht mehr raus aus Luhansk, weil sie alle Männer auf der Straße sofort einziehen. Also floh meine Freundin ohne mich. Seitdem stecke ich in Luhansk fest.

Das Traumatischste war für mich war, zu begreifen, dass ich all das Bürokratische rund um den Tod meiner Mutter nicht persönlich erledigen konnte: So konnte ich etwa die Sterbeurkunde nicht selbst vom Leichenhaus abholen – doch an der Urkunde hängt das Erbe. Ich hätte mich in der Stadt bewegen müssen. Doch das ging nicht.“

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