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Familienfoto der Westbalkan-Konferenz im polnischen Posen. Sechs Staaten hoffen auf einen baldigen EU-Beitritt.

© imago images / Eibner

Westbalkan-Staaten wollen in die EU: Bevor Europa wächst, muss es erst seine Probleme lösen

Die EU ist oft handlungsunfähig. Wer mehr Länder aufnehmen will, ohne die Entscheidungswege zu verbessern, agiert selbstmörderisch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Sind Europas Führungspolitiker schwerhörig und blind? Haben sie den Kontakt zu den Wählern und zur Wirklichkeit verloren? Die Bürger erleben seit Wochen, wie schwer sich eine EU mit 28 Mitgliedern tut, Einigkeit über die grundlegenden Personalentscheidungen herzustellen: Wer soll die Kommission führen, wer den Europäischen Rat, wer die Zentralbank? Die Nationalstaaten und die Institutionen blockieren sich gegenseitig.

Die EU ist blockiert, möchte aber sechs weitere Länder aufnehmen

Sie haben auch zu vielen inhaltlichen Fragen keine gemeinsame Haltung: harter oder weicher Euro, Verteidigung, Klimaschutz, Besteuerung, Trumps USA, China, Russland. Kurzum, Europa ist zwar die reichste Wirtschaftszone der Erde, aber seine Handlungsfähigkeit steht in Frage. Als Weltmacht wird die EU nicht ernst genommen.

Die hohen Politiker scheint das alles jedoch nicht zu scheren. Sie fahren zu einem Westbalkangipfel und verlangen Beitrittsperspektiven für sechs weitere Staaten - ohne sich einvernehmlich auf eine Grundbedingung für die nächste Erweiterung festzulegen: Zuvor muss es eine Reform der Entscheidungsmechanismen geben. Keine neuen Mitglieder, ehe die die EU ihre Handlungsfähigkeit wieder hergestellt hat. Das tut Europas Führungsriege aber nicht.

Es ist schwer zu fassen, wie eine solche Flucht aus der Wirklichkeit - und aus der Verantwortung - möglich ist. Im Kabarett genügen womöglich vier Worte als Antwort: So ist EU-Europa halt.

Wie soll eine EU-34 funktionieren, wenn die EU-28 es nicht kann?

Soll heißen: blauäugig, idealistisch, nicht ganz von dieser Welt. Eine Insel der Seeligen, die beschlossen hat, einfach zu ignorieren, dass es Bedrohungen gibt. Und die sich den Luxus leistet, Interessenkonflikte nicht durch eine Priorisierung der Ziele zu lösen, sondern widersprüchliche Ziele einfach parallel zu verfolgen, ohne sich auf eine Reihenfolge zu verständigen.

Nur: Wie soll eine EU-34 in wenigen Jahren funktionieren, wenn schon die EU-28 oft gelähmt ist und man die Entscheidungswege nicht effektiver machen möchte? Das Vorgehen gleicht einer Kamikaze-Strategie. Zumal im Wettbewerb mit Großmächten wie die USA, China und Russland, die zwar alle möglichen Schwächen haben, deren Handlungsfähigkeit aber kaum jemand in Frage stellt.

Es gibt gute Gründe für die Aufnahmen, sie sind aber nachrangig

Gewiss doch, es gibt gute Argumente, den sechs Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien eine Perspektive anzubieten. Die Aussicht auf Beitritt zur EU stabilisiert Länder und Gesellschaften, die kürzlich noch Krieg gegeneinander geführt haben. Zuvor war das Schüren von ethnischem und religiösem Hass ein verführerischer Ausweg für rücksichtslose Anführer, um von der sozialen Misere abzulenken. Die EU-Perspektive hilft, eine Massenmigration ins reiche Kerneuropa wie 2014/15 zu verhindern. Es liegt im strategischen Interesse der EU, globalen Wettbewerbern wie China, Russland und der Türkei, die sich Einfluss auf dem Balkan sichern wollen, etwas entgegen zu setzen. Und natürlich soll auch die Kompromissbereitschaft, zum Beispiel im Namensstreit um Mazedonien, belohnt werden.

Aber wiegen diese nachvollziehbaren strategischen Interessen der EU schwerer als das Grundinteresse, die eigene Funktionsfähigkeit zu erhalten und zu erhöhen?

Die Reihenfolge sollte eindeutig sein: Erst kommt die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU - und mit beträchtlichem Abstand folgen ihre Interessen auf dem Balkan.

Bevor nicht umfassende strukturelle Reformen der EU mit für alle Staaten verbindlichen Mehrheitsentscheidungen beschlossen worden und sich die jetzigen Mitgliedsstaaten darüber klargeworden sind, wohin die Reise mit der EU überhaupt mittel- und langfristig gehen soll, muss es einen Aufnahmestopp für neue Mitglieder geben.

schreibt NutzerIn spreeathen

Wer erweitern will, muss vorher die Effizienz verbessern

Es wird ohnehin schwer genug sein, die Vorbehalte der heutigen EU-Bürger gegen eine Aufnahme dieser Staaten zu überwinden. Sie sind keine funktionierenden Demokratien, Rechtsstaaten und soziale Marktwirtschaften. Die Erfahrungen mit den Folgen der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens sollten eine Warnung sein. Volle zwölf Jahre nach ihrem Beitritt grassieren weiter Korruption und Sozialbetrug - zum Beispiel auch aus deutschen Kindergeld- und Sozialkassen. So stehen Rechtsstaat und demokratische Grundwerte in Zweifel.

Wenn nun manche Europapolitiker argumentieren, es gehöre zur Verantwortung der EU, die Westbalkan-Staaten nicht warten zu lassen, sondern ihnen eine europäische Perspektive zu geben, man müsse also erst aufnehmen und danach weitersehen, dann sollte der Schluss daraus lauten: Drehen wir die Logik um. Wie ernst es den Befürwortern mit den guten Gründen für die Erweiterung auf den Westbalkan ist, erkennt man daran, mit wie viel Energie sie sich vorher für die Reform der Entscheidungsmechanismen der EU einsetzen. Die muss die Vorbedingung sein, wenn die EU als handlungsfähiger Akteur der Weltpolitik überleben will.

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