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Nie zuvor hat Rias so hohe Zahlen ermittelt.

© dpa/Annette Riedl

Update

230 Vorfälle allein im Oktober: Antisemitismus in Berlin erreicht Rekordhoch

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin extrem gestiegen. Das verändert das öffentliche Leben, berichtet die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus.

| Update:

Die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) hat im Oktober 2023 so viele antisemitische Vorfälle dokumentiert wie nie zuvor. 230 Fälle seien ihr in diesem Monat gemeldet worden, schreibt Rias in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht. Das seien „mehr (...) als in jedem anderen Monat seit Beginn der Dokumentation in Berlin im Jahr 2015“.

Zwischen dem 7. Oktober 2023, als Hamas-Terroristen Israel angriffen, und dem 9. November, als sich die Reichspogromnacht der Nationalsozialisten zum 85. Mal jährte, erfasste Rias 282 antisemitische Vorfälle. Das entspricht im Durchschnitt mehr als acht Fällen pro Tag. Die tatsächlichen Zahlen liegen wohl noch höher, denn Rias seien mittlerweile zahlreiche weitere Vorfälle gemeldet worden, die sie noch nicht hätte verifizieren können.

Bundesweit hätten die Rias-Meldestellen bis zum 9. November 994 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu den Massakern der Hamas dokumentiert, teilte der Verein mit. Das seien 29 Vorfälle pro Tag und somit ein Anstieg um 320 Prozent zum Jahresdurchschnitt von sieben Vorfällen am Tag im vergangenen Jahr. 

Meldungen aus allen Berliner Bezirken

Nach dem 7. Oktober war die Anzahl antisemitischer Handlungen in Berlin „sprunghaft“ angestiegen. Das hohe Niveau hätte sich „seitdem verstetigt“, heißt es in dem nun veröffentlichten Bericht. Gemeldet wurden Vorfälle aus allen Berliner Bezirken. Sie ereigneten sich im Wohnumfeld und am Arbeitsplatz der Meldenden, an Universitäten und Schulen, in Bus und Bahn, auf der Straße, im Supermarkt, auf Social-Media-Plattformen und in Chat-Gruppen.

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Zum Beispiel dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus 14 Fälle, bei denen Wohnhäuser mit einem Davidstern markiert wurden, einem der bekanntesten Symbole für das Judentum. Außerdem kam es zu einem Vorfall extremer Gewalt, als zwei Vermummte frühmorgens brennende Molotowcocktails auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Mitte warfen. „Dieser versuchte Brandanschlag hat zu einer enormen Erschütterung des Sicherheitsgefühls in den jüdischen und israelischen Gemeinschaften geführt“, schreibt Rias in ihrem Bericht.

Menschen verstecken ihre jüdische Identität

Eine Folge des zunehmenden Antisemitismus in Berlin sei, dass jüdisches Leben in der Öffentlichkeit weniger sichtbar ist: „Jüdinnen und Juden verstecken seit dem 7. Oktober noch mehr als zuvor jüdische Zeichen und Symbole: eine Mütze über der Kippah, den Davidstern-Anhänger unter dem Schal verbergen, kein Hebräisch-Sprechen auf der Straße“, heißt es in dem Bericht.

Von der Bevölkerung fühlten sich die Betroffenen in vielen Situationen im Stich gelassen. Sie berichteten von „antisemitischen Anfeindungen im Supermarkt, in der U-Bahn oder im Wohnumfeld, bei denen Umstehende keine Unterstützung geleistet“ hätten, sagt Ruth Hatlapa, Projektreferentin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Sie fordert alle Berlinerinnen und Berliner auf, „Betroffene von Antisemitismus nicht allein zu lassen, gerade auch in Situationen des Alltags.“

Kai Wegner nennt die Zahlen „beunruhigend“

Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) bezeichnete die Zahlen der Rias als „beunruhigend“. Das Thema Antisemitismus müsse „alle wachrütteln“; er erwarte eine starke Zivilgesellschaft. „Judenfeindlichkeit ist keine Meinung, es ist keine Haltung. Es ist eine Straftat“, stellte er am Dienstagnachmittag auf einer Pressekonferenz des Senats klar.

An seiner bisherigen Strategie wolle der Bürgermeister festhalten: „Antisemitismus, Israelfeindlichkeit und Judenhass muss ein starker Rechtsstaat entgegentreten. Israelfeindlichkeit gehört nicht auf die Straßen Berlins. Wir werden alles tun, um solche Bilder in Zukunft zu unterbinden.“

Der Berliner Polizei dankte Wegner für ihren Einsatz in den vergangenen Wochen. Außerdem plane er, die Antisemitismusprävention in Schulen voranzutreiben. „Es wird eine Investition sein, die sich lohnen wird.“

Mehr Geld für Antisemitismusprävention

Berlins Senatorin für Vielfalt und Antidiskriminierung, Cansel Kiziltepe (SPD), kündigte an, die Mittel für die Antisemitismusprävention deutlich zu erhöhen. „Da können Sie sich sicher sein.“

Zur Finanzierung von Präventionsmaßnahmen hatte sich im Vorfeld schon andere Politiker geäußert. Timur Husein, Sprecher für Antisemitismusbekämpfung der Berliner CDU-Fraktion, versprach eine zusätzliche finanzielle Unterstützung für Antisemitismusprävention, jüdische Projekte und die Sicherheit jüdischer Einrichtungen in Höhe von insgesamt 20 Millionen Euro.

Es sei wichtig, den „Zusammenhalt zwischen allen Berlinern zu stärken“, betonte Husein. Die Stadt wolle daher „eine überparteiliche und unabhängige Enquete-Kommission für gesellschaftlichen Zusammenhalt, gegen Antisemitismus, Rassismus, Islamfeindlichkeit und jede Form von Diskriminierung“ einsetzen.

Der Sprecher für Antidiskriminierung, Integration und Strategien gegen Rechts im Abgeordnetenhaus, Orkan Özdemir (SPD), sagte, es sei „unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in unserer Stadt, und das nicht erst seit dem 7. Oktober, in Sorge und einem allgemeinen Unsicherheitsgefühl leben müssen“. Das Unsicherheitsgefühl vieler Minderheiten hätte sich in den letzten Jahren verschärft, während „extreme Haltungen sich in der Gesellschaft zu manifestieren scheinen“. Daher sei wichtig, die Antisemitismusprävention in der Stadt zu stärken sowie die Polizei und Staatsanwaltschaft in entsprechenden Themenfeldern fortzubilden. „Die wichtige Nachricht ist, dass wir nicht untätig bleiben und das ,Nie Wieder!’ strukturell in unserer Stadtgesellschaft verankern“, erklärte Özdemir.

Niklas Schrader (Linke), Mitglied des Ausschusses für Verfassungsschutz, nannte die Zahlen in dem Bericht „erschreckend“. Sie zeigten, dass Antisemitismus „keine Randerscheinung“ sei, sondern „aus der Breite unserer Gesellschaft“ komme. „Wir stehen solidarisch an der Seite aller Menschen, die davon bedroht sind und in Angst leben müssen. Das dürfen wir niemals akzeptieren“, sagte Schrader.

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