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Arbeit kann krank machen. Das Projekt Blaufeuer steuert dagegen.

© picture alliance / dpa/Jens Schierenbeck

Psychisch belastet am Arbeitsplatz: Berliner Projekt hilft Frührente zu verhindern

Immer mehr Frühverrentungen gehen auf psychische Erkrankungen zurück. Das Berliner Präventionsprojekt Blaufeuer berät, wenn die Belastung im Job überhandnimmt.

Elke Wismann geht schon seit Monaten nicht mehr gerne zu Arbeit. Die 54-jährige Berlinerin ist diplomierte Pflegewissenschaftlerin und bildet seit vielen Jahren junge Pflegekräfte aus. Für sie ist diese Tätigkeit zwar erfüllend, doch in den vergangenen Jahren sind die Arbeitsanforderungen jedoch immer weiter gestiegen. Auch die Atmosphäre in ihrer Abteilung gefällt Wismann (Name geändert) schon länger nicht mehr. Sie fühlt sich ausgegrenzt und unwohl.

Seit drei Monaten ist Wismann wegen schwerer Erschöpfung krankgeschrieben. Schon mehrfach hatte sie depressive Episoden. In den vergangenen Jahren war sie bereits in einer Tagesklinik und zwei Rehaeinrichtungen. Nun ist Wismann wieder in der Reha. Sie fragt sich, wie es weitergehen soll. Wie schafft sie es, nicht immer wieder krank zu werden? Kann sie überhaupt noch arbeiten?

Wismanns Hausärztin gibt ihr einen Flyer von Blaufeuer, einer Beratungsstelle mit drei Standorten in Deutschland, einem davon in Berlin. Das Angebot richtet sich an Menschen, die psychische Probleme am Arbeitsplatz haben, etwa infolge von Mobbing oder Überlastung – sei es durch die Arbeit selbst oder weitere Belastungsfaktoren wie die Pflege von Angehörigen.

Die Blaufeuer-Berater:innen lassen Betroffene über ihr Erleben sprechen, häufig das erste Mal überhaupt. Sie hören zu, geben Tipps, vermitteln an Unterstützungsangebote und kommen bei Bedarf auch direkt in den Betrieb. Für die Ratsuchenden ist das kostenlos: Blaufeuer ist ein Modellprojekt und wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Bundesprogramm Rehapro finanziert. Bislang gibt es Beratungsstellen in Berlin, Köln und Nürnberg.

„Wir schließen quasi eine Vermittlungslücke“

Mathias Kiesbye ist Projektkoordinator des Berliner Büros. Der Sozialarbeiter arbeitet schon lange in der Krisenberatung. Seit 2019 ist er mit vier Beraterinnen Teil des Blaufeuer-Projekts. Initiiert und entwickelt wurde es 2019 von der Deutschen Rentenversicherung. Zuvor, in den Nuller-Jahren, war deutlich geworden, dass psychische Erkrankungen in Deutschland immer häufiger zu Frühverrentungen führen. Machten sie 1996 noch einen Anteil von 20 Prozent aus, waren es 2021 bereits 42 Prozent.

„Untersuchungen zeigen, dass sich immer mehr Menschen am Arbeitsplatz psychisch belastet fühlen“, erzählt Kiesbye. „Oft unternehmen sie jahrelang nichts dagegen, bis irgendwann der Zusammenbruch kommt – und dann die Frührente.“ Das ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein Problem. Sowohl Bund und Länder als auch Sozialversicherungsträger haben deshalb ein großes Interesse daran, Arbeitnehmer länger im Job zu halten. 2020 entstand deshalb nach einem Bundestagsbeschluss das Bundesprogramm Rehapro, dem mehr als 150 Projekte angehören. Der Bund fördert sie mit rund einer Milliarde Euro.

Blaufeuer ist eins der Projekte. „Wir schließen quasi eine Vermittlungslücke“, erzählt Kiesbyes Kollegin Sabine Bilda. „Viele Arbeitnehmer sind belastet, nehmen das aber hin, quälen sich und wissen nicht, wo sie Unterstützung bekommen können. Und sie denken, die Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz seien ohnehin nicht zu ändern“, sagt die Sozialarbeiterin.

Untersuchungen zeigen, dass sich immer mehr Menschen am Arbeitsplatz psychisch belastet fühlen. Oft unternehmen sie jahrelang nichts dagegen.

Mathias Kiesbye, Projektkoordinator des Berliner Büros bon Blaufeuer

So komme es zu Erkrankungen, oft psychischen, die dann zu langen Krankschreibungen führten. „Wir überlegen gemeinsam mit den Arbeitnehmern, was sie brauchen, um gesund zu bleiben“, sagt Bilda. „Und wir gehen auf Wunsch mit dem Arbeitgeber ins Gespräch, kommen auch direkt in die Betriebe, um dort zu vermitteln.“

So war es auch bei Elke Wismann. Nach der Empfehlung durch ihre Hausärztin nahm sie Kontakt zu Blaufeuer auf. Ein Jahr lang kam sie alle vier Wochen zum Gespräch in das Friedrichshainer Büro. Gemeinsam mit den Berater:innen überlegte sie, was sie braucht, um wieder mit gutem Gefühl zur Arbeit zu gehen. Zwei Beratungstermine fanden bei ihrem Arbeitgeber statt. Dort einigen sich alle darauf, dass Wismann auch nach ihrer beruflichen Widereingliederung weiterhin nur 25 Wochenstunden arbeitet. Außerdem nahm sie ihre Dozententätigkeit in einer neuen Abteilung wieder auf. Seitdem unterrichtet sie vorwiegend online.

So sieht die Beratung bei Blaufeuer aus.
So sieht die Beratung bei Blaufeuer aus.

© Blaufeuer

Um ihre psychische Gesundheit langfristig zu stabilisieren, unterstützten die Blaufeuer-Berater Wismann außerdem dabei, eine ambulante Psychotherapie zu finden, ermunterten sie zu Freizeitaktivitäten und dazu, ihre in anderen Bundesländern lebenden erwachsenen Kinder häufiger zu besuchen.

Seitdem geht es der Angestellten insgesamt deutlich besser. „Wir machen hier keine Psychotherapie, sondern wir unterstützen die Menschen dabei, konkrete Lösungen für ihre Probleme zu finden, langfristig zufriedener und in der Folge wieder leistungsfähiger zu werden“, sagt Mette Hallensleben, die als Psychologin bei Blaufeuer berät.

Generell sei zu wenig bekannt, dass es viele Alternativen zum verfrühten Renteneintritt gibt. „40 Prozent der Menschen, die in Frührente gehen, haben in den Jahren davor weder eine Reha gemacht noch eine andere Leistung zur Teilhabe in Anspruch genommen“, sagt Hallensleben. „Viele Renteneintritte ließen sich also womöglich verhindern, wenn man den Menschen früher helfen und sie entlasten würde.“

Bei Blaufeuer arbeiten die Mitarbeiter:innen nach dem Leitsatz „Es gibt immer eine Lösung“. Bei jedem neuen Klienten – egal ob Hilfskraft oder Manager – versuche das Team zunächst, Druck herauszunehmen, erzählt Sabine Bilda. „Wir machen den Menschen klar, dass es nicht darum geht, möglichst schnell wieder arbeitsfähig zu werden. Sondern eine Arbeit mit einem Setting zu finden, das langfristig zu ihnen passt.“

Dazu helfe es, sich zunächst die eigenen Werte bewusst zu machen. „Wir fragen die Klienten, wann ihnen eine Erwerbsarbeit zuletzt Freude gemacht hat. Und was damals anders war. Dann suchen wir gemeinsam einen Weg, wie es wieder ähnlich werden könnte.“

Dieser Weg kann ein Arbeitsplatzwechsel sein. Eine berufliche Umorientierung. Manchmal reicht auch ein klärendes Gespräch oder der Wechsel in eine andere Abteilung. „Oft sind die Menschen überrascht, wie kompromissbereit die Arbeitgeber sind. Oder wie einfach der Jobwechsel“, sagt Bilda. Besonders ältere Menschen glaubten häufig, in ihrem Alter keine neue Arbeit mehr zu finden. „Aber die Zeiten hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland sind vorbei. Wer heute unglücklich im Job ist, sollte den Wechsel wagen. Er findet auf jeden Fall etwas Besseres“, sagt die Sozialarbeiterin.

Krank sein bedeutet nicht Faulenzen

Die Blaufeuer-Mitarbeiter ärgert es, dass in der Öffentlichkeit lange Arbeitsausfälle mit einem Faulenzer-Image behaftet sind, besonders wenn es um psychische Erkrankungen geht. Betroffene fürchteten häufig, ihre Abwesenheit werde von Chefs und Kollegen als „Blaumachen“ wahrgenommen, als würden sie diese Zeit wie einen Urlaub genießen.

Das Gegenteil sei der Fall, erzählt Bilda. „Arbeit ermöglicht Menschen Selbstwirksamkeit, sie fühlen sich handlungsfähig und wertvoll.“ Wer über eine lange Zeit krankgeschrieben sei, fühle sich oft gleichzeitig unter Druck gesetzt und ohnmächtig. „Arbeit ermöglicht uns nicht nur eine freiere Lebensgestaltung durch Einkommen. Sondern auch Bestätigung, Kompetenz- und Sinnerleben.“

Zu Blaufeuer kann jeder kommen, dem es an seinem Arbeitsplatz psychisch nicht mehr gut geht, sagt Bilda. Ganz egal, ob die Arbeitsumstände Auslöser sind, das Verhältnis zu Vorgesetzten und Kollegen oder andere Lebensumstände. „Bei uns braucht man keine Diagnose. Es reicht, sich belastet zu fühlen.“

Wieso heißt das Projekt eigentlich Blaufeuer? Kiesbye kann das erklären: „Es ist ein Begriff aus der Seefahrt“, erzählt er. „Ein Blaufeuer ist ein nächtliches Leuchtsignal, das in Not geratene Schiffe abgeben können, um einen ortskundigen Lotsen an Bord zu rufen.“ Die Lotsen helfen der Besatzung dabei, sich in der rauen See zurechtzufinden und die Kontrolle über das eigene Schiff wiederzuerlangen. „Genau wie bei uns.“

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