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Großer Andrang: Das Verfassungsgericht tagt in einem Hörsaal.

© Foto: dpa/Annette Riedl

Update

Nach Pannenwahl 2021: Landesverfassungsgericht hält komplette Wahlwiederholung in Berlin für notwendig

Am Mittwoch verhandelt der Berliner Verfassungsgerichtshof zur Pannen-Wahl 2021. Die Präsidentin kritisierte die Vorbereitung und Durchführung der Wahl deutlich.

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Der Berliner Verfassungsgerichtshof hält nach einer vorläufigen Einschätzung eine komplette Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus für notwendig – und ebenso zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen. Das erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting am Mittwoch zum Auftakt der mündlichen Verhandlung zur Überprüfung der Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl. Sie begründete dies mit schweren Wahlfehlern, die Auswirkungen auf die Mandatsverteilung und Zusammensetzung des Parlaments gehabt haben könnten.

Selting erklärte zu Anfang der Sitzung: „Eine vollständige Ungültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und für die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen kommt in Betracht.“ Die Begründung dieser vorsichtig formulierten Einschätzung war dann aber sehr deutlich. So sei schon die schlechte Vorbereitung der Wahl als schwerer Wahlfehler zu werten, eine Vielzahl weiterer schwerer Wahlfehler seien bei der Wahl selbst aufgetreten.

Diese seien nach einer vorläufigen Einschätzung mandatsrelevant gewesen – sie hatten nach Einschätzung des Gerichts also Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die Verteilung der Mandate. Durch die Art der Zusammensetzung des Berliner Abgeordnetenhauses reiche schon eine dreistellige Zahl an Stimmen, um die Zusammensetzung zu verändern, argumentierte das Gericht.

Die festgestellte Zahl von falsch oder auf kopierten Stimmzetteln abgegebenen Stimmen übersteige diese Zahl deutlich. Nur durch eine komplette Wahlwiederholung könne ein verfassungskonformer Zustand herbeigeführt werden, argumentiert das Gericht.

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Das bisherige Parlament dürfe allerdings weiter arbeiten, bis ein neues gewählt sei. Auch die bisherigen Entscheidungen seien weiterhin gültig. Das endgültige Urteil des Verfassungsgerichtshofes muss spätestens drei Monate nach der Verhandlung gefällt werden. 90 Tage später muss die Wahl stattfinden. Das wäre wohl im Frühjahr 2023.

Staatssekretär: Endgültige Entscheidung abwarten

Für den Senat nahm Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD) an der Verhandlung teil. Er wollte sich zu dem vorläufigen Ergebnis nicht äußern. Er sagte: „Unstreitig ist, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Das hat bei den Berlinerinnen und Berlinern das Vertrauen in die Wahlen beeinträchtigt.“ Solche Wahlfehler würden sich nicht wiederholen, versprach Akmann.

Er stellte die Vorläufigkeit der Einschätzung des Gerichts heraus, sagte aber: „Das Gericht hat sich viele Gedanken zum sehr komplexen Sachverhalt gemacht und sich mit Nachdruck den Dingen angenommen.“ Man müsse die endgültige Entscheidung abwarten. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) wollte sich zur Einschätzung des Gerichts nicht äußern.

Es ist beschämend, es reicht! Wer das Vertrauen in Wahlen erschüttert, gefährdet unsere Demokratie.

Berlins CDU-Generalsekretär Stefan Evers

CDU-Generalsekretär Stefan Evers sagte dem Tagesspiegel zu dem vorläufigen Ergebnis: „Deutlicher konnte das Gericht heute kaum werden: Berlin muss sich auf komplette Neuwahlen einstellen.“ Rot-Grün-Rot habe Berlin blamiert. „Es ist beschämend, es reicht! Wer das Vertrauen in Wahlen erschüttert, gefährdet unsere Demokratie“, sagte Evers.

Er forderte den Rücktritt vom heutigen Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel. Dieser war als Innensenator für die Rechtsaufischt bei der Wahl verantwortlich gewesen. „Ich bin sicher, dass die Berliner sehr bald die Chance haben werden, diesem peinlichen Senat die rote Karte zu zeigen. Es geht um unsere Stadt“, sagte Evers.

Auch Berlins AfD-Vorsitzende Kristin Brinker legte Geisel und zudem Staatssekretär Akmann einen Rücktritt nahe. Dies wäre „konsequent“, da sie für die Wahlfehler verantwortlich seien, sagte sie dem Tagesspiegel. „Das Gericht kann gar nicht anders, als unserem Antrag auf Wahlwiederholung zu folgen.“ Immerhin habe das Gericht viele vermeidbare Wahlfehler aufgelistet und diese nur als „Spitze des Eisbergs“ bezeichnet.

„Das Wahldesaster zur Abgeordnetenhaus- und BVV-Wahl im letzten Jahr steht sinnbildlich für die Dysfunktionalität weiter Teile der Berliner Verwaltung“, teilte der FDP-Landesvorsitzende Christoph Meyer mit. „Die Verantwortung trägt zuvorderst die SPD, welche in den letzten Jahren mit diversen Partnern auf Landes- und Bezirksebene die Missstände immer weiter verschlimmert hat.“

Eine komplette Wahlwiederholung wäre „folgerichtig“, sagte Meyer – „die zahllosen Wahlfehler ‘fressen’ sich in ihrer Erheblichkeit durch die Wahllisten der Parteien, so dass nur eine Wahlwiederholung im gesamten Stadtgebiet angezeigt scheint“.

Auch Meyer forderte Geisels Demission. „Andreas Geisel ist als seinerzeit zuständiger Senator nicht mehr zu halten, er sollte weiteren Schaden vom Ansehen des Senats durch seinen sofortigen Rücktritt abwenden.“

Der ehemalige FDP-Abgeordnete Marcel Luthe freute sich über die Rechtseinschätzung des Gerichts. Er hatte den Aufklärungsprozess mit vorangetrieben, sein Einspruch gegen die Wahl wird aber nicht verhandelt. „Schön, dass das Gericht meiner Argumentation weitgehend gefolgt ist“, sagte Luthe dem Tagesspiegel. Nach seiner Ansicht sei das Parlament aber nicht mehr demokratisch legitimiert und müsse deshalb sofort aufgelöst werden.

Eines der wichtigsten Verfahren in der Geschichte des Gerichts

Am 26. September 2021 wurden in Berlin der Bundestag, das Berliner Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen gewählt. Dazu kam noch ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne.

Dabei waren massive Probleme aufgetreten: Dazu zählten falsche oder fehlende Stimmzettel, die zeitweise Schließung von Wahllokalen und lange Schlangen davor mit teils stundenlangen Wartezeiten. Außerdem hatten etliche der 2257 Wahllokale teils noch weit nach 18 Uhr geöffnet.

Insgesamt liegen dem Gericht 35 Einsprüche gegen die Wertung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen vor, über vier davon soll zunächst verhandelt werden. Dabei geht es um die Beschwerden der Landeswahlleitung, der Innenverwaltung sowie der Parteien AfD und Die Partei.

Alle Verfahrensbeteiligten können dazu Stellung nehmen. Entscheidend bei dem Wahlprüfungsverfahren ist die Frage, ob Fehler am Wahltag mandatsrelevant waren - ob sie also Auswirkungen auf Mandatsverteilung und Zusammensetzung des Parlaments hatten.

Das Verfahren gilt als eines der wichtigsten in der Geschichte des höchsten Berliner Gerichts und sprengt alles bisher Dagewesene. So tagen die Richterinnen und Richter erstmals außerhalb ihres Domizils im Kammergerichtsgebäude.

Wegen der ungewöhnlich großen Zahl von Verfahrensbeteiligten und des immensen öffentlichen Interesses kamen sie in einem großen Hörsaal der Freien Universität zusammen, wo bis zu 570 Teilnehmer Platz finden. Nach Angaben von Sprecherin Lisa Jani handelt sich um die bislang größte Gerichtsverhandlung dieser Art in Berlin.

Rund 80 Justizwachmeister und Polizisten sorgen für Sicherheit

Um die Verhandlung am Verfassungsgerichtshof über die Gültigkeit der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus abzusichern, sind rund 80 Justizwachtmeister und Polizisten im Einsatz. Nach Angaben einer Justizsprecherin sind allein rund 40 Justizwachtmeister vor Ort. Wie der Einsatzleiter der Polizei am Mittwochmorgen ergänzte, kommen noch einmal so viele Polizisten hinzu.

Bei den Wahlen zum Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 waren zahlreiche Pannen und organisatorische Probleme aufgetreten.
Bei den Wahlen zum Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 waren zahlreiche Pannen und organisatorische Probleme aufgetreten.

© Foto: dpa/Kay Nietfeld

Der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Dennis Buchner, stellte sich vor Beginn auf eine lange mündliche Verhandlung ein. „Das wird ein langer Tag“, sagte er am Mittwoch bei seiner Ankunft am Verhandlungsort der dpa. Er gehe davon aus, dass der Verfassungsgerichtshof erste Hinweise geben werde, wie es die Situation einschätze. Dann könnten sich die Beteiligten dazu äußern. 

Das endgültige Urteil soll bis Ende des Jahres fallen

Nach der Verhandlung haben die Richterinnen und Richter laut Gesetz drei Monate Zeit für ein Urteil, also bis Ende des Jahres. Im politischen Raum wird ihre Entscheidung im November oder Dezember erwartet.

Parallel zu dem Berliner Verfahren steht auch im Hinblick auf den Bundestag die Möglichkeit einer Wahlwiederholung im Raum. Darüber befindet - womöglich im Oktober - zunächst der Bundestag selbst auf Basis einer Empfehlung seines Wahlprüfungsausschusses. Erwartet wird, dass dann Klagen dagegen beim Bundesverfassungsgericht eingehen und dieses das letzte Wort hat. (mit dpa)

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