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Unterstützer von Erdogan halten am Wahlabend ein Poster in Istanbul hoch.

© AFP/OZAN KOSE

Wahlausgang in der Türkei: Allein mit Wut ist ein Autokrat nicht zu schlagen

Erdogan und seine Seelenverwandten – von Trump über Orban bis Netanjahu – sind nur so stark, wie ihre Gegner es zulassen. Leider lassen sie vieles zu.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Kann es sein, dass in vielen Ländern rund die Hälfte der Wähler fanatisch, nationalistisch, verführbar, verblendet, verbohrt ist? Dieser Eindruck drängt sich auf, wann immer rechte Parteien und illiberale Politiker Erfolge feiern. Oft ist dann der mediale Verurteilungsdrang stärker als der Verstehenswunsch. Das darf nicht wahr sein! So hallt es durch den Echoraum.

Jüngstes Beispiel: die Wahl in der Türkei. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen war prognostiziert worden. In Umfragen, das wurde stets betont, lag der Herausforderer vorn. Nicht nur die Märkte wetteten auf einen Sieg der Opposition. Viele Türken seien ihres seit zwanzig Jahren regierenden Präsidenten überdrüssig. Seiner Großmannssucht, seiner Drangsalierung jeglicher Opposition, seiner Verachtung liberaler Werte, seiner verfehlten Wirtschaftspolitik, seiner Inkompetenz nach dem verheerenden Erdbeben.

Das alles stimmt – und ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Zu deren anderem Teil zählt, dass knapp 50 Prozent der Wähler für Recep Tayyip Erdogan gestimmt haben, auf knapp 45 Prozent kam der Kandidat des oppositionellen Sechserbündnisses, Kemal Kilicdaroglu. Die Entscheidung fällt in 14 Tagen in einer Stichwahl. Ein Regierungswechsel bleibt zwar möglich, dürfte aber schwierig sein.

Untereinander verstehen sie sich blendend

Warum kommen autoritäre Populisten bei demokratischen Wahlen an die Macht? Warum halten sie sich dort in aller Regel so ausdauernd wie zäh? Da ist Donald Trump in den USA: Es gab zwei Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, ein Gerichtsurteil wegen sexueller Belästigung, die Liste seiner Verfehlungen ist lang. Trotzdem liegt er in Umfragen gleichauf mit Präsident Joe Biden. Seine Partei und die Hälfte des Wahlvolkes stehen hinter ihm.

Dann sind da: Narendra Modi in Indien, Benjamin Netanjahu in Israel, Viktor Orban in Ungarn. Untereinander verstehen sie sich blendend. Keiner befürchtet, vom anderen wegen Menschenrechtsverletzungen, Minderheitendiskriminierung oder diverser Verstöße gegen das Prinzip der Gewaltenteilung kritisiert zu werden. Ihre Allianz wird von dem Willen zusammengehalten, die internationale Ordnung zu renationalisieren.

Trump lobt an Orban, sein Land gegen Flüchtlinge abgeschottet zu haben. Von sich selbst sagt er, er komme mit Politikern auf der ganzen Welt zurecht, „je härter sie sind, desto besser“. Als Beispiel nennt er Erdogan. Orban lobt Netanjahu als einen der „angesehensten und erfahrensten Staatsmänner der westlichen Welt“.

Kilicdaroglu ist der personifizierte kleinste gemeinsame Nenner

Autokraten sind Meister der Selbstinszenierung. Ihre Botschaften sind klar und einfach. In ihrem Weltbild gibt es Gut und Böse. Sie verstellen sich nicht. In Verbindung mit dem Macher-Image geht von dieser Kombination eine große Anziehungskraft aus. Davon muss eine Opposition lernen.

Erdogan und seine Seelenverwandten sind nur so stark, wie ihre Gegner es zulassen. Leider lassen sie vieles zu. Biden ist alt und klapperig. Kilicdaroglu ist der personifizierte kleinste gemeinsame Nenner von sechs Oppositionsparteien. In Israel ist der Versuch, als Bündnis gegen Netanjahu anzutreten, regelmäßig gescheitert. Die Schadensbegrenzungsstrategie ist eben kein Ersatz für eigene Inhalte.

Die oberste Regel lautet indes: den Gegner und dessen Anhänger ernst nehmen. Wer über Reizthemen wie Migration, Familie, Tradition oder Nation mit Rechten nicht reden will, setzt sich dem Verdacht der Ignoranz und Arroganz aus. Der Verweigerungsreflex ist verständlich, kann aber leicht als Schwäche ausgelegt werden. Davor sollten Demokraten sich hüten.

Einer wie Erdogan hat Angst vor Worten. Sonst würde er seine Gegner nicht einsperren. Diese Angst ist es, die ihm vorgehalten werden solle, immer und immer wieder. Denn mit Verdammungsgesten allein sind Autokraten nicht zu schlagen. Nur wer das bessere Argument auf seiner Seite hat, kommt aus der Defensive in die Offensive.

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