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Revers mit Fahnensticker von Frankreich und Deutschland.

© imago images/Steinach/Sascha Steinach via www.imago-images.de

Macron auf Staatsbesuch in Deutschland: Das Wunder der deutsch-französischen Versöhnung

Aus jahrhundertelangen Erzfeinden wurden Freunde. Diese Errungenschaft dürfen wir nicht kleinreden. Gerade in düsteren Zeiten kann sie Hoffnung spenden.

Ein Kommentar von Anja Wehler-Schöck

Wir leben in düsteren Zeiten. Weltweit steigt die Zahl der Kriege und Krisen. 2023 verzeichneten die UN mehr als 33.000 zivile Opfer in bewaffneten Konflikten. Eine Steigerung von 72 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Eine schier unglaubliche Entwicklung.

Kein Wunder, dass die Hoffnung der Menschen sinkt. Nur noch 19 Prozent der Deutschen geben in einer aktuellen Allensbach-Umfrage an, zuversichtlich auf die Zukunft zu blicken.

Da ist es hilfreich, sich gelegentlich der Wunder unserer Zeit zu erinnern. Noch in den 1980ern schienen der Fall der Mauer, die deutsche Wiedervereinigung unvorstellbar. Wer hätte sich vor einigen Jahrzehnten, als in Europa der 2. Weltkrieg tobte, vorstellen können, dass es eines Tages eine Europäische Union in der heutigen Form geben würde.

Und wer hätte je geglaubt, dass eine jahrhundertelange Erzfeindschaft, wie die Deutschen und Franzosen sie pflegten, in einer engen Freundschaft enden könnte. Nicht nur ist ein Krieg zwischen den beiden Ländern heute unvorstellbar. Paris und Berlin diskutieren sogar über gemeinsame Verteidigungsprojekte. Kommende Woche beim deutsch-französischen Ministerrat in Meseberg werden sie auf der Agenda ganz oben stehen.

Den Zustand des deutsch-französischen Verhältnisses darauf zu reduzieren, wie gut sich die beiden amtierenden Regierungschefs miteinander verstehen, heißt, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Ja, der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident geben kein harmonisches Erscheinungsbild ab.

Beide stehen in der Pflicht, das kostbare Gut der engen Beziehungen zu hüten. Ob es ihnen gelingt, darf und wird letztlich nicht den Ausschlag geben. Sie sind Amtsträger – auf Zeit. Die deutsch-französische Freundschaft wird sie überleben.

Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Präsident Charles de Gaulle den Elysée-Vertrag.

© dpa/UPI

Ja, es gibt zahlreiche Themen, bei denen sich beide Länder derzeit uneins sind. Angefangen von der Art der Unterstützung für die Ukraine, über die europäische Wirtschaftsordnung bis hin zur Frage der Atomkraft. Doch eine solide Partnerschaft kann Differenzen aushalten. Entscheidend sind Transparenz und Kommunikation. Und es darf keine Alleingänge geben.

Genau an diesen Punkten hat es zuletzt gehapert. Das muss sich ändern. Zwischen den zwei großen EU-Mitgliedstaaten braucht es Annäherung und Kompromissbereitschaft, wenn es um Themen geht, die für die Zukunft Europas entscheidend sind.

Auch die Tatsache, dass der letzte Staatsbesuch im Juni 2000 stattfand, als Jacques Chirac im neu gestalteten Reichstagsgebäude sprach, ist keineswegs Anlass zur Sorge, dass es um das deutsch-französische Verhältnis schlecht bestellt sei. Denn: Die 24-jährige Pause zeugt auch davon, wie selbstverständlich die engen Beziehungen der beiden Länder inzwischen geworden sind.

Es ist nicht so, dass es keine Besuche gegeben hätte. Im Gegenteil. Es ist bereits das dritte Mal, dass der französische Präsident Emmanuel Macron dieses Jahr nach Deutschland reist. Bundeskanzler Olaf Scholz nutzte vor kurzem sogar einen privaten Aufenthalt in Paris, um sich mit Macron zu treffen.

Und auch unter den Ministern und auf anderer Ebene findet ein reger Austausch statt. In vielen Bereichen ist er alltäglich geworden und nicht mehr wegzudenken. Allerdings: Gewohnheit und Selbstverständlichkeit können in einer Partnerschaft manchmal dazu führen, dass die Wertschätzung füreinander sinkt. Damit setzt man sie aufs Spiel. Dazu, dass das nicht geschieht, leistet Macron mit seinem Besuch einen entscheidenden Beitrag.

„Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! Eines großen Volkes, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat.“ Der französische Präsident

Charles de Gaulle, Präsident Frankreichs von 1944 bis 1946 und von 1959 bis 1969

Am Montagnachmittag wird er vor der Dresdner Frauenkirche sprechen. Noch nie vor ihm war ein französischer Präsident zu einem offiziellen Besuch in einem ostdeutschen Bundesland. Ein Versäumnis. Umso bedeutsamer ist es, das jetzt nachzuholen. Macron will eine Rede an die „europäische Jugend“ halten. Zwei Wochen vor der Europawahl, bei der in Deutschland junge Menschen ab 16 Jahren zum ersten Mal wählen dürfen, sendet er damit eine wichtige Botschaft.

Die Jugend spielt in der Geschichte der deutsch-französischen Freundschaft eine zentrale Rolle. Das war den Entscheidungsträgern, die dafür Anfang der 1960er Jahre den Grundstein legten, bewusst. Im September 1962, nur 17 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs stand der damalige Präsident Frankreichs Charles de Gaulle in Ludwigsburg und beglückwünschte die jugendliche Zuhörerschaft dazu, „junge Deutsche zu sein“, nannte sie „Kinder eines großen Volkes“. Eine Geste der Versöhnung, die auch heute, 62 Jahre später, noch etwas Unglaubliches hat.

Der französische Präsident Charles de Gaulle bei seiner historischen Rede in Ludwigsburg am 9. September 1962.

© imago sportfotodienst/imago sportfotodienst

Wird Macrons Rede in Dresden eine ähnlich historische Wucht haben? Wohl kaum. In jedem Fall wird der französische Präsident aber ein wichtiges Signal senden. Und zwar bereits bevor er das erste Wort gesagt hat. Mit seinem Besuch zeigt er, welche Bedeutung er Deutschland beimisst. Denn er kommt unmittelbar nach der 24-stündigen Rückreise aus Frankreichs Überseegebiet Neukaledonien, wo ein Bürgerkrieg droht. Inmitten des Europawahlkampfes, in dem das rechtspopulistische Rassemblement National um Marine Le Pen und Jordan Bardella die Show stiehlt.

Reden wir die deutsch-französische Freundschaft also nicht klein. Sondern behandeln sie als das, was sie ist: nicht weniger als ein Wunder. Eines, das in düsteren Zeiten Hoffnung verleihen mag. Denn der Fall zeigt: Konflikte, die uns heute unendlich erscheinen, können irgendwann enden. Selbst bei Erzfeinden besteht Aussicht auf Versöhnung.

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