zum Hauptinhalt
Die von den Rebellen kontrollierte nordsyrische Stadt Jindires ist im Februar von schweren Erdbeben getroffen worden.

© REUTERS/KHALIL ASHAWI

Mehr Leid, weniger Interesse: Warum Syrien mehr denn je auf Hilfe angewiesen ist

Fast 90 Prozent der Syrer leben in Armut. 15 Millionen Menschen brauchen Unterstützung. Doch Hilfsorganisationen beklagen die Zurückhaltung der Staatengemeinschaft. Welche Folgen hat das?

„Sind wir hier, um unsere Zeit zu verschwenden?“ Wafa Mustafa ist eine syrische Aktivistin. Ihre Stimme wird lauter, als sie über den syrischen Machthaber Baschar al Assad spricht. Während ihrer Rede im Europahaus wird sie immer wieder von Applaus unterbrochen. Mustafa ist eine der Teilnehmerinnen der Geberkonferenz „Unterstützung für die Zukunft Syriens und der Region“, die vergangene Woche in Brüssel stattgefunden hat.

Zum siebten Mal trafen sich Vertreter der Zivilgesellschaft aus Syrien und anderen Ländern mit Entscheidungsträgern und Hilfsorganisationen, um über Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für die syrische Bevölkerung zu beraten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Nach mehr als zwölf Jahren Krieg und dem katastrophalen Erdbeben im Februar im Nordwesten des Landes leben fast 90 Prozent der Syrer unter der Armutsgrenze. Mehr als 15,3 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen — die höchste Zahl seit Beginn der Krise im Jahr 2011 und ein Anstieg um 23 Prozent im Vergleich zu 2020.

Weniger Geld als im Vorjahr

Lokale Hilfsorganisationen rechnen damit, dass die Zahl weiter steigt. Trotzdem wurde bei der diesjährigen Geberkonferenz weniger Hilfe versprochen als im vergangenen Jahr.

Hatte die Europäische Kommission noch 3,1 Milliarden Euro für 2022 zugesagt, sind es in diesem Jahr nur 1,5 Milliarden Euro; eine halbe Milliarde Euro sind für 2024 vorgesehen. Deutschland beteiligt sich mit 1,05 Milliarden Euro, derselben Summe wie im Vorjahr.

„Wir begrüßen die zugesagten Beträge, aber die zugesagten 5,6 Milliarden Euro reichen bei weitem nicht aus, um den Bedarf in Syrien und der Region zu decken“, sagt Tanya Evans, Landesdirektorin für Syrien beim International Rescue Committee (IRC), im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Das Leid hat nach den Erdbeben zugenommen

Ziel der Hilfe sei es, die Grundversorgung der Menschen in Syrien langfristig zu sichern, damit sie in Zukunft weniger auf Spenden angewiesen sind. In den kommenden zwölf Monaten, so Evans, müsse daher dringend dafür gesorgt werden, dass die Zusagen in die Tat umgesetzt werden, „damit Millionen Menschen in Syrien ihr Leben wieder aufbauen können“.

Der Wiederaufbau ist dringender denn je, insbesondere nach den schweren Erdbeben im Februar, von denen neben der Türkei auch der Nordwesten Syriens betroffen war.

Armut im ganzen Land: Menschen in Idlib zahlen für Gemüse, das auf dem Boden verkauft wird.

© Foto und Text: Mohammed Albayoush, aus Syrien

Mehr als 10.000 Gebäude sind eingestürzt, rund 1,9 Millionen Menschen leben noch immer unter katastrophalen Bedingungen in Lagern oder behelfsmäßigen Unterkünften. „Oft haben sie keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten, sauberem Wasser oder Strom“, berichtet Evans.

Die insgesamt 5,6 Milliarden Euro reichen bei weitem nicht aus, um den Bedarf in Syrien und der Region zu decken.

Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien

Unmittelbar nach den Beben erschwerte Assad eine koordinierte Nothilfe in den von Rebellen kontrollierten Gebieten. Über Bab al Hawa, dem einzigen offenen Grenzübergang in den Nordwesten Syriens, war Medienberichten zufolge damals mehr Baumaterial als dringend benötigte Medikamente, Kleidung und Zelte gekommen.

Ausgetrocknete Flüsse durch den Klimawandel

Laut einer vom IRC durchgeführten Bedarfserhebung gaben 70 Prozent der befragten Haushalte an, dass sie sich nach den Erdbeben in einer unsicheren Ernährungssituation befinden. Zwei von drei Kindern, die vom IRC befragt wurden, zeigten Anzeichen psychischen Leidens wie vermehrtes Weinen, Traurigkeit und Alpträume.

Neben den Erdbeben und dem langwierigen Konflikt haben auch Cholera- und Covidausbrüche sowie die Folgen des Klimawandels verheerende Folgen für die Bevölkerung. „Das ganze Land leidet unter Wassermangel“, sagt Suhair Zakkout, Pressesprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). „Der Fluss Chabur, der vor 13 Jahren noch Überschwemmungen verursachte, ist jetzt fast ausgetrocknet. Die Menschen finden in der Region keinen Tropfen Wasser mehr“.

Junge Generation findet kaum Arbeit

Die internationale Gemeinschaft und die Geberstaaten dürften den Syrern nach mehr als zwölf Jahren bewaffneten Konflikts nicht den Rücken kehren, sagt Zakkout. Denn die humanitäre Hilfe sei die Lebensader für die Syrer. „Es ist ein Teufelskreis, der von einer Krise in die nächste führt. Die Menschen können während dieser Krisen nicht atmen.“

Die humanitäre Hilfe ist die Lebensader für die Syrer.

Suhair Zakkout, Pressesprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz

Gibt es Hoffnung? „Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, um zu überleben, können kaum Hoffnung haben“, sagt Zakkout.

Vor allem die junge Generation finde trotz Ausbildung kaum Arbeit. Sie wüssten nicht, ob es für ihre Kinder eine bessere Zukunft geben werde. Deshalb sollten die Geberländer neben humanitärer Hilfe auch auf eine politische Lösung drängen.

Das fordert auch die Aktivistin und Journalistin Wafa Mustafa in ihrer Rede in Brüssel. „Wir sind seit dem frühen Morgen hier“, sagt sie am ersten Tag der Konferenz, „und wir haben kaum etwas über politische Lösungen gehört.“

Der Schmerz und die Geschichten der Syrer seien von der internationalen Gemeinschaft ausgeschöpft worden, und doch habe sich nichts geändert. Assad, sagt sie, sei der Grund, warum sie Syrien verlassen musste. „Aber Assad ist immer noch an der Macht und begeht Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Erst vor einem Monat ist Syrien in die Arabische Liga zurückgekehrt, mehr als elf Jahre nach seinem Ausschluss. Während sich das Land inmitten einer humanitären Katastrophe befindet, versucht die Mehrheit der arabischen Staaten, die Beziehungen zu einem Regime wiederherzustellen, vor dem die Hälfte der syrischen Bevölkerung fliehen musste.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false