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Wer wird mehr diskriminiert? Demonstration vor dem Supreme Court in Washington.

© Getty Images via AFP/ANNA MONEYMAKER

Positive oder negative Diskriminierung?: Amerika streitet um die Vielfalt

Das Oberste US-Gericht hat den leichteren Zugang zu Elite-Universitäten für Minderheiten für verfassungswidrig erklärt. Das Urteil spaltet die Vereinigten Staaten.

US-Präsident Joe Biden ist am Donnerstagmittag schon an der Tür, um den Roosevelt Room des Weißen Hauses zu verlassen. Eine Reporterin ruft ihm die Frage hinterher: Ob er auch der Meinung sei, der Oberste Gerichtshof habe mit dem Urteil zu „Affirmative Action“ seine Legitimität infrage gestellt.

Biden bleibt stehen und antwortet: „Das ist kein normales Gericht“, dann verlässt er den Raum. Direkt davor hat er sich in dem kurzfristig angesetzten Presseauftritt „schwer enttäuscht“ über das Urteil gezeigt. In den USA existiere Diskriminierung nach wie vor, sagte er. Daran ändere auch die jetzige Entscheidung nichts.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Präsident den Supreme Court offen kritisiert. Und es ist auch nicht die erste Entscheidung der konservativen Richter-Mehrheit, die das linksliberale Amerika erschüttert. Vor genau einem Jahr wurde das bundesweite Abtreibungsrecht gekippt. Aber an diesem Donnerstag bezieht Biden einmal mehr besonders deutlich Stellung.

Der Supreme Court hat kurz zuvor ein Urteil mit enormer Tragweite gefällt. Ethnie und Hautfarbe dürfe bei der Zuteilung von Studienplätzen keine Rolle spielen, entschied das Gericht mit allen sechs Stimmen der konservativen Richter.

Damit wird eine seit Jahrzehnten angewandte Regelung mit dem Namen „Affirmative Action“ beendet, deren Ziel es war, die historische Diskriminierung vor allem von Afroamerikanern zu beseitigen. Universitäten und Hochschulen konnten damit den ethnischen Hintergrund der Bewerber in ihren Auswahlverfahren berücksichtigen.

Der Student oder die Studentin muss auf Grundlage seiner oder ihrer Erfahrung als Individuum behandelt werden – nicht auf Grundlage von Rasse.

Oberster US-Richter John Roberts

Künftig dürfen sie das nicht mehr. „Der Student oder die Studentin muss auf Grundlage seiner oder ihrer Erfahrung als Individuum behandelt werden – nicht auf Grundlage von Rasse“, schrieb der Vorsitzende Richter John Roberts zu dem Urteil. In den USA ist der Begriff „race“ (Rasse) zur Unterscheidung von Bevölkerungsgruppen anhand ihrer Hautfarbe üblich.

Ganz unterschiedlicher Meinung sind der konservative Oberste Richter John Roberts und die erste schwarze Verfassungsrichterin Ketanji Brown Jackson.

© REUTERS/HANDOUT

„Viel zu lange haben Universitäten das genaue Gegenteil gemacht“, so Roberts in der mehr als 200 Seiten langen Urteilsbegründung. Dabei seien sie fälschlicherweise zu dem Schluss gekommen, dass eine Person nicht aufgrund gemeisterter Herausforderungen, erworbener Fähigkeiten oder Erfahrungen gemessen werden müsse, sondern anhand der Hautfarbe. Das stehe im Widerspruch zur amerikanischen Verfassung.

Roberts sagte allerdings auch, das Urteil bedeute nicht, dass Universitäten künftig die Auswirkungen der ethnischen Herkunft auf den Werdegang eines Bewerbers komplett ausblenden müssten. Ein Bewerber kann dies demnach von sich aus anbringen. 

Diese Einschränkung konnte den Ärger der drei linksliberalen Richter indes nicht abmildern. Sie vertreten eine ganz andere Meinung, wie Richterin Sonia Sotomayor in einer wütenden Gegenmeinung darstellte. Darin warnt sie, die Entscheidung werde ein ungerechteres Bildungssystem in den Vereinigten Staaten schaffen.

Die erste schwarze Verfassungsrichterin Ketanji Brown Jackson schrieb in ihrer abweichenden Meinung, nur weil man die ethnische Herkunft vor dem Gesetz für irrelevant erkläre, werde sie das nicht im wirklichen Leben.

Die Maßnahme wurde in den 1960er Jahren eingeführt

Darin liegt der Kern der Diskussion. Was ist gerecht, wie kann historisch gewachsene Ungleichheit bekämpft werden – und wie sehr benachteiligt die bewusste Förderung bestimmter Minderheiten womöglich andere Gruppen?

Maßnahmen unter dem Schlagwort Affirmative Action waren in den 1960er Jahren im Zuge der Bürgerrechtsbewegung eingeführt worden. Sie waren aber von Anfang an umstritten.

Zunächst zogen weiße Studienbewerber mit dem Argument vor Gericht, sie würden Opfer einer „umgekehrten Diskriminierung“. Kritiker führten an, die Hautfarbe zu berücksichtigen, zementiere die Unterteilung von Menschen in unterschiedliche Gruppen und spalte so die Gesellschaft.

Geklagt hatte eine konservative Studentenorganisation

Der jetzige Kläger, die Studentenorganisation Students for Fair Admissions (Studenten für faire Zulassungen), argumentierte nun unter anderem damit, durch die insbesondere auf Afroamerikaner abzielenden Auswahlverfahren an der privaten Elite-Universität Harvard und der staatlichen University of North Carolina (UNC) würden Bewerber mit asiatischen Wurzeln benachteiligt.

Dass die konservative Gruppe im Namen abgelehnter asiatisch-amerikanischer Studenten klagte, zeigt, dass längst neue Fronten zwischen den verschiedenen ethnischen Minderheiten entstanden sind. Auch diese Debatte ist Teil der immer erbitterter ausgefochtenen Kulturkämpfe in den Vereinigten Staaten.

Asiatischstämmige Bewerber fühlten sich diskriminiert

Konkret argumentierten die Kläger, dass Harvard asiatisch-amerikanische Bewerber systematisch diskriminiere, indem die Uni höhere Standards als bei anderen Minderheiten anlege. Tatsächlich kam bereits 2004 eine Princeton-Studie zu dem Schluss, dass asiatisch-amerikanische Interessenten im Vergleich zu anderen Gruppen deutlich bessere Noten erzielen müssen, um an einer Elite-Uni aufgenommen zu werden. 

Kritiker der Affirmative Action, wie die asiatisch-stämmige Emilie Kao, die eng mit der konservativen Heritage Foundation verbunden und selbst Harvard-Absolventin ist, argumentieren, dass verordnete Vielfalt an den Hochschulen in Wahrheit nur neue Benachteiligungen schaffe.

Dass diese Vorwürfe nicht völlig von der Hand zu weisen sind, belegen Gerichtsakten aus vorangegangenen Prozessen. Darin finden sich Einblicke in die Persönlichkeitstests, die Harvard anwendet. „Sympathie, Mut, Freundlichkeit und andere soziale Eigenschaften“ wurden darin bei asiatischen Amerikanern am niedrigsten eingestuft. 

Die Biden-Regierung will aber das Ende der Affirmative Action nicht einfach hinnehmen. Noch am Donnerstag kündigte der Präsident an, das Bildungsministerium werde prüfen, wie für mehr Vielfalt in der Studentenschaft gesorgt werden könne. Die Sorge ist, dass die Zahl schwarzer Studenten ansonsten stark zurückgeht.

Ähnliche Proteste gewinnen derweil auch im Schulwesen an Fahrt: Überwiegend asiatisch-amerikanische Eltern machen auch gegen Affirmative Action an Eliteschulen mobil. Das Thema wird aller Voraussicht nach im nächsten Jahr eine große Rolle spielen, wenn ein neuer Präsident und große Teile des US-Kongresses neu gewählt werden

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