zum Hauptinhalt
Abzug. Ein Großteil der Soldaten (hier bei einem Truppenbesuch von Verteidigungsminister Yoav Gallant) haben den südlichen Gazastreifen bei Chan Junis verlassen.

© IMAGO/ZUMA Wire/Ariel Hermoni/Israel Mod

Update

Experten analysieren die Lage: Wieso Israel Truppen aus dem Süden Gazas abzieht

Ein Großteil der israelischen Soldaten verlässt den Süden des Gazastreifens. Nur eine Brigade bleibt dort. Welche Rolle spielt der mögliche Angriff auf Rafah?

| Update:

Es war ein Rückzug, der über Nacht vonstattenging. Die israelische Armee hat am Sonntag nach eigenen Angaben einen Großteil ihrer Truppen aus der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens abgezogen.

Israels Streitkräfte (Israel Defence Forces) teilten auf Anfrage mit: „Am heutigen Sonntag, den 7. April, hat die 98. Kommando-Division ihren Einsatz in Chan Junis beendet. Die Division verließ den Gazastreifen, um sich zu erholen und auf künftige Operationen vorzubereiten.“

Eine Brigade – das sind 5000 Soldaten – soll jedoch im Gazastreifen bleiben und die „Handlungsfreiheit der IDF und ihre Fähigkeit zur Durchführung präziser nachrichtendienstlicher Operationen aufrechterhalten“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Ist mit der deutlichen Reduzierung der Truppenstärke auch eine Offensive gegen Rafah im südlichen Gazastreifen vom Tisch?

Kobi Michael glaubt das nicht. „Ich gehe davon aus, dass sich die 98. Division auf eine Bodenoperation im Raum Rafah vorbereiten wird“, sagt der Forschungsleiter am Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv dem Tagesspiegel. Diese werde stattfinden, „wenn die Hamas sich weiterhin weigert, Zugeständnisse in Bezug auf die Geiseln zu machen“. 

Ich gehe davon aus, dass sich die 98. Division auf eine Bodenoperation im Raum Rafah vorbereiten wird.

Kobi Michael, israelischer Sicherheitsexperte

Simon Wolfgang Fuchs sieht das anders. „Ich glaube, dass die Ankündigung einer großen Offensive gegen Rafah von Premier Benjamin Netanjahu in erster Linie als strategisches Mittel genutzt wurde und wird, um sich innenpolitisch zu profilieren“, sagt der Professor für Nahoststudien an der Hebräischen Universität in Jerusalem im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Ob Israels Regierungschef tatsächlich den Ort im Süden des Gazastreifens angreifen lassen will, bezweifelt Fuchs.

Israelische Medien deuteten den Abzug als mögliches Ende der großen Bodenoffensive, die am 27. Oktober vergangenen Jahres begonnen hatte. Künftig seien in Chan Junis nur noch gezielte, punktuelle Einsätze geplant, schreibt die Nachrichtenseite ynet.

Dass der Truppenrückzug Grundlegendes an der Kriegsführung ändern wird, glaubt Fuchs indes nicht. „Das Militär wird nach wie vor auch im südlichen Teil des Küstenstreifens aktiv bleiben und Einsätze durchführen. Nur mit dem Unterschied, dass Soldaten nicht mehr in Gaza direkt stationiert sind.“ Es werde also weiterhin kleinere Kampfhandlungen geben, einschließlich der Verfolgung von hochrangigen Hamas-Funktionären.

Das Militär wird nach wie vor auch im südlichen Teil des Küstenstreifens aktiv bleiben und Einsätze durchführen.

Simon Wolfgang Fuchs, Professor für Nahoststudien in Jerusalem

Chan Junis galt als Hochburg der Terrororganisation Hamas, die bei einem Angriff auf Israel am 7. Oktober mehr als 1200 Menschen tötete und 250 als Geiseln verschleppte. Die Zeitung „Haaretz“ zitiert einen Armeevertreter mit den Worten, die 98. Division habe die Hamas-Brigaden in Chan Junis aufgelöst und Tausende ihrer Kämpfer getötet. „Wir haben dort alles getan, was wir konnten“, wird er zitiert.

Dem Militärsprecher zufolge würde der Abzug den vertriebenen Palästinensern ermöglichen, in ihre Häuser zurückzukehren, nachdem sie in Rafah Schutz gesucht hatten.

Michael Milshtein, Sicherheitsexperte am Moshe-Dayan-Zentrum der Universität Tel Aviv, hält die Ankündigung des Abzugs der 98. Division für „dramatisch“, wie er dem Tagesspiegel sagte. „Das bedeutet, dass Israel im Moment nur einen kleinen Korridor innerhalb des Gazastreifens direkt überwacht und nicht wirklich in der Lage ist, die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen zu übernehmen.“

Es gebe Stimmen in Israel, die sagen, dass sich Israel nun auf Rafah konzentrieren könne. Milshtein glaubt allerdings, dass der Abzug mit den Spannungen an der Nordfront zum Libanon und dem Konflikt mit dem Iran zusammenhänge. „Jedenfalls sieht die Hamas die Ankündigung als ein positives Zeichen, dass die ursprüngliche Bedrohung durch Israel abnimmt.“

Am Sonntag jedoch äußerten sich sowohl Israels Generalstabschef Herzi Halevi also auch Verteidigungsminister Yoav Gallant in eine bestimmte Richtung: Der Einsatz in Gaza ist noch nicht vorbei. Halevi sagte: „Der Krieg in Gaza dauert an, und wir sind weit davon entfernt, aufzuhören.“ Hochrangige Funktionäre der islamistischen Hamas hielten sich in dem Küstengebiet weiter versteckt. „Wir werden sie früher oder später erreichen“, sagte er. „Wir werden keine Hamas-Brigaden aktiv lassen – in keinem Teil des Gazastreifens.“

Gallant äußerte sich am Sonntag ähnlich. „Unsere Streitkräfte bereiten sich auf die Fortsetzung ihrer Missionen in der Region Rafah vor.“ Auch Regierungschef Netanjahu betonte, dass er entschlossen sei, die islamistische Palästinenserorganisation Hamas „im gesamten Gazastreifen“ auszulöschen, „einschließlich Rafah“.

Ob der jetzige Rückzug als Reaktion auf den Druck der US-Führung zustande kam, ist unklar. Israels Armee verneint das. Allerdings hatten Präsident Joe Biden und Außenminister Antony Blinken mehrfach von Premier Benjamin Netanjahu verlangt, sowohl mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und damit eine bessere Versorgung der notleidenden Bevölkerung zu gewährleisten als auch von einer Offensive in Rafah an der Grenze zu Ägypten Abstand zu nehmen.

Das Drängen der amerikanischen Führung war so massiv geworden – Biden hatte offen mit einem Kurswechsel in seiner Israel-Politik gedroht –, dass Netanjahu sich vor Kurzem bereit erklärte, die Hilfe für Gaza umgehend deutlich hochzufahren. Dafür würden auch vorübergehend der Hafen von Aschdod sowie der Grenzübergang Erez geöffnet.

Wie schlecht die Stimmung gegenüber Israels Regierung unter den US-Demokraten ist, machte Nancy Pelosi jüngst deutlich. Die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhauses verlangt einen Stopp der Waffenlieferungen der USA an Israel.

Sie unterzeichnete am Freitag zusammen mit 36 weiteren Demokraten aus dem Kongress einen Brief an Biden und Blinken, in dem es heißt: „Angesichts des jüngsten Schlags gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und der sich ständig verschärfenden humanitären Krise halten wir es für ungerechtfertigt, diese Waffentransfers zu genehmigen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false