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Bahn, öffentlicher Dienst, Sozialberufe, Dienstleistungen - derzeit wird in Deutschland viel gestreikt.

© dpa/Sina Schuldt

Wachsende Zahl an Warnstreiks: Ein höherer Mindestlohn könnte die Neiddebatte beenden

Sparmaßnahmen infolge des Haushaltsstreits träfen sozial Schwache deutlich stärker. Die Ampelkoalition muss aufpassen, dass sie die Gesellschaft nicht auseinanderreißt.

Ein Kommentar von Felix Kiefer

Die Bahn steht still. Entweder wegen Eis auf den Gleisen oder wegen der Streiks der Lokführergewerkschaft GDL. Die Bildungsmisere weitet sich aus, Kinder in Deutschland schneiden laut Pisa-Studie nochmals schlechter ab als noch vor einigen Jahren.

Auch eine Lösung des Haushaltsproblems ist in diesem Jahr nicht mehr in Sicht. Deutschland ist im „Krisenmodus“, nicht erst seit die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff am Freitag zum Wort des Jahres 2023 kürte. Doch wer ist in der Krise? Wer leidet am stärksten unter ihr?

Untergangspropheten verschiedenster politischer Lager haben es in diesen Tagen einfach, den Abgesang auf Deutschland anzustimmen: Die besten Jahre liegen hinter uns, andere Staaten laufen Deutschland wirtschaftlich den Rang ab, Innovationen entstehen woanders.

Die Lösung sei einfach: Rückkehr zu einer soliden Finanzpolitik, weniger Klimaschutz und noch weniger Sozialstaat. Sparen könne man etwa beim Bürgergeld und der Kindergrundsicherung. Dadurch würde sich Arbeit wieder lohnen und Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen.

Die Welt wundert sich über den deutschen Sonderweg

Doch gerade dieser Weg führt nicht aus der Krise, sondern viel tiefer hinein. Das zeigt auch ein Blick ins Ausland. Viele Staaten schauen verwundert auf die dogmatische, deutsche Selbstverpflichtung zum ausgeglichenen Haushalt: Während die großen Weltmächte ihre Wirtschaft mit massiven Subventionen für die Zukunft fit machen, diskutiert das reiche Deutschland, das Land mit der niedrigsten Schuldenquote unter den Industriestaaten, ob man Sozialhilfebeziehenden die Bezüge oder doch lieber bei transformativen Investitionen kürzen sollte, um die weltweit strengsten Schuldenregeln doch noch einzuhalten.

Dazu würden gerade die finanziell am schwächsten gestellten Haushalte am stärksten unter dem Sparen an öffentlicher Infrastruktur oder der Bildung leiden. Wer weniger hat, besitzt oft kein eigenes Auto, sondern ist auf Bus und Bahn angewiesen. Auch die Ergebnisse der Pisa-Studie zeigen, dass soziale Herkunft weiter das entscheidende Kriterium für den Bildungserfolg ist.

Inmitten multipler Krisen steht Deutschland also vor einer Richtungsentscheidung: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Was leisten wir uns?

Die Hälfte aller Haushalte in Deutschland ist, ausgelöst durch die Energiekrise, nicht mehr in der Lage zu sparen, ohne den Konsum zurückzufahren oder auf Rücklagen zurückzugreifen.

Während sich Preise allmählich wieder normalisieren, verzeichnete der größte deutsche Börsenindex in dieser Woche ein Rekordhoch nach dem anderen. Fast um 20 Prozent legte der Dax in diesem Jahr bisher zu. Davon profitieren vor allem die Menschen, die überhaupt etwas zur Seite legen können.

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Hieße soziale Marktwirtschaft nicht auch, Kapitaleinkommen mindestens genauso stark zu besteuern wie Arbeitseinkommen? Oder Erbschaften nicht quasi unversteuert an Folgegenerationen weitergeben zu können? Gerade in Zeiten der Krise müssen starke Schultern doch mehr tragen als schwache. Steuergerechtigkeitsinitiativen wie „Taxmenow“ zeigen, dass die Bereitschaft bei extrem Vermögenden da ist, sich stärker an der Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen.

Die aktuellen Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst oder bei der Bahn zeigen, dass die Menschen nicht mehr bereit sind, ihren Teil für ein funktionierendes Gemeinwesen zu schlechten Konditionen beizutragen. Die Menschen wollen arbeiten und an der Lösung der zahlreichen Krisen mitwirken. Sie kündigen ihre Jobs nicht, um Bürgergeld zu beziehen und auf der faulen Haut zu liegen.

Statt Menschen, die arbeiten, aber viel zu wenig verdienen, mit Aufstockungen ein Existenzminimum zur Verfügung zu stellen, sollte man ihnen höhere Löhne zahlen. Die angekündigte Mindestlohnerhöhung von 41 Cent ist schlichtweg lächerlich. Arbeit lohnt sich nicht, weil andere weniger, sondern, nur wenn Arbeitende genug haben. Mit einem höheren Mindestlohn könnte zum einen der aktuellen Neiddebatte ein Ende gesetzt werden. Zum anderen würden Anreize für Ungelernte, Ältere, Langzeitarbeitslose sowie Fachkräfte aus dem In- und Ausland steigen, eine Arbeit aufzunehmen.

Wohlstand für alle erreichen wir dadurch, dass wir allen Menschen ermöglichen, sich nach ihren Möglichkeiten in die Gesellschaft einzubringen. Dafür braucht es einen gerechteren Zugang zu Bildung, Gesundheit und Infrastruktur. Den Haushalt durch Kürzungen in diesen Bereichen auszugleichen, würde vielleicht den Koalitionsfrieden retten, aber die Gesellschaft auseinanderreißen statt sie aus der Krise zu führen.

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