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Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi spricht im Bundestag.

© dpa/AP/Ebrahim Noroozi

Gedenken an die Shoah: „Sei ein Mensch“

Die Zeiten sind aufgewühlt. Das Gedenken an den Holocaust im Bundestag gibt beidem Raum: der Erinnerung an die Vergangenheit und der Anspannung der Gegenwart.

Eva Szepesi war ein Mädchen mit langen Zöpfen, das ihre Puppe liebte und sie mitnehmen wollte, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Sie weiß noch, was sie trug: eine blaue Jacke, die ihre Mutter für sie gestrickt hatte. Sie wollte sie anbehalten. „Ausziehen“, habe eine Aufseherin ihr befohlen. Dann wurden ihr die Zöpfe abgeschnitten. Achtlos auf einen Haufen geworfen. Ihr Kopf wurde geschoren. Sie war zwölf Jahre alt.

Überlebt hat sie, weil ihr eine andere Aufseherin sagte, sie sei 16 Jahre alt und solle nur nicht versuchen, sich jünger zu stellen. An diesem Mittwoch steht Szepesi im Bundestag. Als sie ihre Geschichte erzählt, wirkt das Grauen nah, die Zeit greifbar. Die Puppe, die Jacke, die Zöpfe, Dinge, an denen Kinder hängen, weil sie eben Kinder sind.

Sie erzählt, wie ihre Mutter sie gerade noch rechtzeitig auf die Flucht geschickt habe. „Beim Abschied drückte meine Mama mich fest an sich.“ Ihre Mutter habe Tränen in den Augen gehabt, sie habe das nicht verstanden, ihre Mutter wollte doch bald mit dem kleinen Bruder nachkommen. Jahre später erfuhr sie, dass beide einige Monate vor ihrer eigenen Ankunft im KZ in Auschwitz ermordet wurden.

Aufwühlende Erinnerung an die Shoah

Das Gedenken an die Shoah ist in diesem Jahr besonders aufwühlend. Drei Monate ist es her, dass Israel von Terroristen der Hamas brutal überfallen wurde. Sie drangen in Häuser ein, filmten die Attacken, zeigten, wie Kinder schrien, als sie ihre Eltern ermordeten. Auf den Bildern aus den Häusern der überfallenen Kibbuzim sieht man Kuscheltiere, Fotos vom Leben vor dem 7. Oktober, Blut.

In Deutschland ist die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten seit dem 7. Oktober 2023 stark angestiegen. Zeitgleich protestieren hunderttausende Menschen gegen die AfD und die Gefahr für die Demokratie, die von ihr ausgeht. Im Plenum des Bundestags weinen an diesem Tag Abgeordnete, auf den Tribünen Gäste, Journalistinnen und Journalisten. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) trocknet auf der Regierungsbank ihre Tränen mit einem Taschentuch.

Szepesi erzählt, wie sie eines Tages Schulfreunde dabei beobachtete, wie sie ein rohes, blutiges Stück Fleisch unter einen Wasserhahn hielten. Einer ihrer besten Freunde habe dabei gesagt: „Ja, schau ruhig her. Genauso wie von diesem blutigen Stück Fleisch wird auch bald das Blut deines Vaters fließen.“ Er wisse, dass es wehtue, wenn die besten Freunde so etwas sagten, habe ihr Vater ihr gesagt. Doch sie trügen keine Schuld, sie seien aufgestachelt worden. Der Vater musste zum Arbeitsdienst nach Belarus. Sie sah ihn nie wieder.

Nur, weil sie Juden waren.

Eva Szepesi über das Massaker durch die Hamas am 7. Oktober

Szepesi zieht eine Linie in die Gegenwart: „Dann kam der 7. Oktober. Der Tag, an dem der tödlichste Angriff gegen Juden seit der Shoah stattfand. Der Tag, an dem die Terrororganisation Hamas Babys, Kinder, Eltern und Großeltern bestialisch ermordete. Nur, weil sie Juden waren.“  Sie sagt: „Sehr geehrte Damen und Herren, es hätten auch Ihre Kinder sein können.“

Die Shoah habe mit dem Schweigen der Gesellschaft begonnen. Es erschrecke sie, wenn rechtsextreme Parteien gewählt würden. „Sie dürfen nicht so stark werden, dass unsere Demokratie gefährdet wird“, sagt sie. Im Plenum klatschen alle, auch die Abgeordneten der AfD. Ein Mitarbeiter in Baden-Württembergs Landtag sagte laut einer Recherche, es lebten nun „so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde“.

Nicht in jedem Postboten einen möglichen Mörder sehen

Weil die Zeit voranschreitet, gibt es kaum noch Zeitzeugen. Aber deren Kinder. Eines ist Marcel Reif, Sportjournalist, Fußballkommentator. Sein Vater habe über die Shoah geschwiegen, erzählt er. Sein Vater müsse sich im Grab umgedreht haben, bei dem, was nach dem 7. Oktober zum Teil auf Deutschlands Straßen gesagt worden sei. „Aber was da zuletzt zu hören und zu sehen war, die großen Demonstrationen der Aufrechten, das macht mir Hoffnung“, sagt er.

Die AfD-Abgeordneten klatschen nur noch vereinzelt. Beinahe, als müssten sie für Reif, der die Shoah nicht selbst überlebt hat, die Scharade, sie würden sich gegen Hass und Hetze engagieren, nicht aufrechthalten.

Reif sagt, er wolle seinem Vater für sein Schweigen danken. Sie seien in das Land der Täter gezogen. „Eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend war das; fröhlich und sorgenfrei, nicht zuletzt, das weiß ich heute, weil mein Vater schwieg.“ Die Kinder sollten nicht in jedem Postboten, in jedem Bäcker, in jedem Lehrer die möglichen Mörder der Großeltern sehen.

Marcel Reif: „Eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend war das, fröhlich und sorgenfrei, nicht zuletzt, das weiß ich heute, weil mein Vater schwieg.“
Marcel Reif: „Eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend war das, fröhlich und sorgenfrei, nicht zuletzt, das weiß ich heute, weil mein Vater schwieg.“

© dpa/Michael Kappeler

Reif habe seinen Vater nicht nach seinen Erlebnissen gefragt, weil er Angst gehabt habe. „Unsagbares hören, Unfassbares erfassen und Unerträgliches ertragen zu müssen. Bilder des Grauens, was man meinem großen, starken Vater angetan hatte.“

Manchmal, erzählt Reif, wenn er mit seinem kleinen Sohn zu seinem Vater gekommen sei, sei dieser unerreichbar geworden. Er habe das unangemessen gefunden, einmal habe er ihn tadeln wollen. „Da fuhr meine Mutter dazwischen. Sie machte so eine absolute Handbewegung und sagte, du weißt ja gar nichts“.

Später habe er erfahren, dass sein Vater auf der Flucht durch den Wald einen kleinen Jungen, ungefähr so alt wie sein Enkel, bei einer Bauersfamilie habe zurücklassen müssen. Als sie nach dem Krieg den Jungen abholen wollten, sagten die Bauern: „Tut uns leid, die Deutschen kamen, und da mussten wir das Kind die Klippe runterwerfen.“

Sei ein Mensch.

Marcel Reif zitiert seinen Vater.

Manchmal habe der Vater den Jungen vor Augen gehabt, wenn der Enkel vorbeikam. Vor ein paar Jahren habe ihn ein Mann auf der Straße angesprochen, ob Reif ein paar Minuten Zeit habe, er wolle ihm etwas über seinen Vater erzählen. Der habe ihn als Vierjährigen durch die polnischen Wälder getragen und ihm so das Leben gerettet.

„Mir wurde irgendwann beinahe schlagartig klar, dass mein Vater ja doch gesprochen hatte und mir all das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war“, sagt er. „Das alles hat er in einen kleinen Satz gepackt, und ich erinnere mich täglich mehr daran, wie oft er mir diesen Satz geschenkt hat. Mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur, in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse. Sei a Mensch. Sei ein Mensch.“

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