zum Hauptinhalt
Egon Bahr und Willy Brandt: Lange arbeiteten die beiden Sozialdemokraten Seit an Seit. Ganz anders 1989/90: Brandt begrüßte die Revolution in der DDR, kämpfte für die Einheit. Bahr hingegen war betrübt und bremste.

© Fritz Fischer/dpa

Gerhart Baums Enthüllungen: Harsche Vorwürfe gegen Egon Bahr

Der SPD-Außenpolitiker Egon Bahr habe sich mit Moskau gegen die Vereinigung Deutschlands 1990 verschworen, behauptet Ex-Innenminister Gerhart Baum (FDP).

Es ist ein heftiger Vorwurf. Gerhart Baum, einst Bundesinnenminister und so etwas wie das linksliberale Gewissen der FDP, wirft dem einstigen, 2015 verstorbenen SPD-Außenpolitiker Egon Bahr vor, mit sowjetischen Kommunisten gegen die deutsche Einheit konspiriert zu haben.

Bahr habe „nach 1989 alles versucht, um den Zwei-plus-vier-Vertrag zu verhindern ... Bahr konspirierte mit der Gorbatschow feindlich gegenüberstehenden Falin-Gruppe in Moskau“, schreibt Baum in einem Leserbrief in der „FAZ“.

Baums Fazit: „Gut, dass Bahr für den zweiten Teil der Ostpolitik, so wichtig seine Rolle am Anfang war, keine Rolle mehr gespielt hat.“

„Argumente für Moskau“

Doch Baum, der von 1978 bis 1982 Innenminister unter Helmut Schmidt (SPD) war und in der SPD weithin geschätzt wird, greift mit seiner Bahr-Kritik noch weiter aus. So habe Bahr die Skepsis am Nato-Doppelbeschluss, dem „Kernstück der Außenpolitik von Schmidt und Genscher, genährt und Moskau Argumente an die Hand gegeben, die noch heute wirken“.

Vor der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 habe Bahr der sowjetischen Forderung nachgeben wollen, „auch die innerdeutsche Grenze als endgültig anzuerkennen“. Für den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sei das inakzeptabel gewesen.

Baums Darstellungen fügen sich in das öffentliche Bild Bahrs, seine eigenen – in den 1980er Jahren zunehmend fehleranfälligen – Einschätzungen und Erkenntnisse aus Archiven.

Der lange Weg der SPD zur kritischen Selbstreflexion

Bahrs Fixierung auf den Kreml bei gleichzeitigem, demonstrativem Desinteresse an den Belangen des polnischen, ungarischen etc. Volkes haben die Sozialdemokratie bis in die jüngste Zeit geprägt und ihren Ruf zu Recht beschädigt. Wladimir Putin musste erst seinen Krieg gegen die Ukraine 2022 ausweiten, damit der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil eine selbstkritische Aufarbeitung der SPD-Russlandpolitik ankündigte.

Klingbeil und einige andere Sozialdemokraten benennen seit dem 24. Februar 2022 das sträfliche Desinteresse ihrer Partei an den Belangen (und Ängsten) in Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Ukraine und anderen Ländern des früheren Ostblocks. Derweil tritt die SPD gegenüber der Kommunistischen Partei Chinas unterwürfig auf. Muss man eigentlich jeden schweren Fehler, verbrämt als „Realismus“, mehrfach machen?

„Sowjetischer als die Sowjets“

„Ich habe es satt, dass wir Sozialdemokraten dauernd sowjetischer sind als die Sowjets“, klagte der SPD-Außenpolitiker Norbert Gansel schon vor 33 Jahren, im Februar 1990, nachdem Bahr verkündet hatte, das vereinigte Deutschland dürfe nicht Mitglied der Nato sein.

Während sich halb Europa rasant änderte, blieb Bahr auf seine alten, mächtigen Freunde – im und um den Kreml und unter den SED-Betonköpfen – fixiert. Im Mai 1989 bemerkte er intern, die SPD solle „an unserer Grundlinie im Verhältnis zur DDR und SED nichts ändern“. Sodann intrigierte er gegen die Gründung einer SPD in der DDR.

Umweltgruppen? Bürgerrechtler? All das interessierte Bahr nicht.

Das Grundproblem Bahrs: Er richtete seine Politik allein auf die Regierungen, also die kommunistischen Staatsparteien, aus. Gesellschaftliche Prozesse? Bewegungen? Umweltgruppen? Bürgerrechtler? All das interessierte ihn nicht. Doch in der SPD gab und gibt es zu viele Bahr-Schüler.

Etwa einen Landespolitiker namens Gerhard Schröder, gut bekannt und per Du mit SED-ZK-Mitglied Egon Krenz. Im Jahre 1986 hatte Schröder von Krenz Wünsche zum niedersächsischen Landtagswahlkampf erhalten – und revanchierte sich: „Auch du wirst für euren Parteitag und die Volkskammerwahlen sicher viel Kraft und vor allen Dingen Gesundheit gebrauchen.“ Ein eigenartiger Werte-Relativismus! Ob sich Krenz und Schröder, jüngst beide Gäste in der russischen Botschaft, dort ausgetauscht haben?

Wie sich Brandt und Bahr entfremdeten

Bis heute wollen selbst kluge Köpfe wie Frank-Walter Steinmeier oder Olaf Scholz nicht wahrhaben, dass das Verhältnis zwischen Willy Brandt und Bahr in der Phase 1989/90 zerrüttet war. Damit beweisen sie eine frappierende geschichtspolitische Ignoranz.

Als das Eis des Kalten Krieges endlich zu tauen begann, zeigte Brandt seine tiefe Freude über die Revolution in der DDR, drängte wie Helmut Kohl auf eine rasche Einheit. Bahr hingegen trauerte und bremste, fürchtete einen Siegeszug der Nato und der USA.

Nachsichtig ging die SPD mit Putin und Typen wie Sergej Lawrow um. Schröders Liebesdienerei, Steinmeiers naive Russlandpolitik, Matthias Platzecks Ahnungslosigkeit sind legendär. Auch Helmut Schmidt äußerte sich abfällig über die Ukraine. Diese Politik samt ihrer fatalen Folgen ruhen auf den Fundamenten, die Bahr gelegt und bis zu seinem Tode 2015 verteidigt hat.

Muss es da wundern, dass Bahr Putin selbst noch nach der Annexion der Krim als „berechenbar“ lobte? Dass Bahr vor dem Fake-„Referendum“ auf der Krim verkündete, die Krim werde ein Teil Russlands sein? Und dass sein Lehrling Gerhard Schröder Putin umarmte und umgarnte? Welcher Sozialdemokrat kritisierte es eigentlich, wenn Putin ukrainische Politiker als „Faschisten“ verunglimpfte? Bahrs Wirkung auf die SPD ist kaum zu unterschätzen. Baum hat an Bahrs Fehleinschätzungen nun noch einmal erinnert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false