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Wolfgang Ischinger (72) war beamteter Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie Botschafter in Washington und London. Seit 2008 leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz.

© Jürgen Heinrich/Imago

Wolfgang Ischinger im Interview: "Deutschland macht nur Dinge, bei denen man nicht nass wird"

Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, über Donald Trump, die Trittbrettfahrer-Mentalität der Deutschen und Europas Mangel an Stolz und Selbstachtung.

Herr Ischinger, wie verändert Präsident Trump die transatlantischen Beziehungen?

Der Einschnitt ist erheblich. Wir werden nach Trumps Amtszeit nicht zum Status quo vor ihm zurückkehren. Zugleich bin ich überzeugt: Wer Trump für die Forderung benutzt, Europa müsse sich endlich von den USA abnabeln, redet dummes Zeug. Es geht um deutsche Interessen, voran um die Wirtschaft und die Sicherheit. Auf absehbare Zeit lässt sich der Schutz, den die USA uns mit der Nato bieten, nicht ersetzen. Ökonomisch sind die deutsche und die amerikanische Volkswirtschaft auf einzigartige Weise miteinander verbunden. Es gibt keine anderen Staaten, deren Privatunternehmen höhere Investitionen im jeweils anderen Land haben als die USA und Deutschland. Egal wie enttäuscht wir über Trump sind: Die USA bleiben unsere Kernbeziehung für Wirtschaft und Sicherheit.

Wird sich das Verhältnis zu den USA erholen, sobald Trump Geschichte ist?

Emotional ja, wenn eine ganz andere Figur nach ihm Präsident wird. Aber in der Welt der Werte und ihrer Symbole bleibt ein Schaden. Die Wahl von Trump hat für die Identität der Bundesrepublik tragischere Folgen als für die Briten oder Franzosen. Ganze Generationen von Deutschen sind nach dem Krieg damit aufgewachsen, dass wir auf dem Weg nach Westen sind. Wir waren stolz darauf, im Westen anzukommen. Als deutscher Botschafter in den USA habe ich gerne gesagt: In der Geschichte haben wir Deutschen oft auf der falschen Seite gestanden.

Nun werden wir immer auf der richtigen Seite stehen. Für meine Generation war der Präsident von Amerika die Symbolfigur dieser Wertegemeinschaft. Das war doch der Grund, warum mehr als 200.000 Deutsche Barack Obama sehen wollten, noch bevor er gewählt war. Und auch der Grund, warum John F. Kennedy fast wie ein Gott bejubelt wurde. Die Briten und Franzosen brauchen das nicht. Die denken von sich, dass sie den Westen erfunden haben: die Demokratie und das Parlament. Die Deutschen haben ein anderes Verhältnis zu den USA. Ich kann meiner 13-jährigen Tochter nicht erklären, dass sie im derzeitigen amerikanischen Präsidenten das Symbol der Werte sehen soll: Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Freiheit. Das lässt sich nicht so leicht reparieren.

Was kann Deutschland tun?

Unabhängig von praktischen Fragen wie der europäischen Sicherheitspolitik und dem Zwei-Prozent-Ziel für die Verteidigung besteht die politische Aufgabe jetzt in einer Emanzipation. Das kann aber keine Emanzipation gegen Amerika sein und auch keine Emanzipation der Deutschen allein. Die Europäer müssen gemeinsam selbständiger werden und den Wertekodex mit einem Inhalt füllen, dem sich auch ein Amerika nach Trump wieder anschließen kann. Es geht nicht um Befreiung von Amerika, sondern um mehr Selbständigkeit.

Für diese Entwicklung ist Trump – und ist auch Putin – gar nicht so schädlich. Politik ist träge und verändert sich nur, wenn es sein muss. Putin zwingt uns zu einer realpolitischen Sicht der Sicherheit Europas. Trump zwingt uns zu der Erkenntnis, dass es nicht geht, dass 500 Millionen Europäer ihre Sicherheit für mehr als 70 Jahre „outsourcen“, unter Missachtung ihrer Würde und ihres Stolzes. Im Fußball steigt der Stolz auf den eigenen Club, wenn der mal ein paar Spiele gewinnt. Europas Bürger spüren, dass die EU mit ihren weltpolitischen Anstrengungen ein ums andere Mal auf die Nase fällt. Es ist noch nicht so einfach, auf diese Europäische Union stolz zu sein, solange die nichts hinkriegt. Das ist jedenfalls ein verbreitetes Gefühl.

Wer stößt diesen Prozess an?

Emmanuel Macron spricht von einem Europa, das beschützt. Damit meint er nicht Protektionismus. Die EU soll uns innere und äußere Sicherheit geben und unseren Wohlstand bewahren. Die EU muss das „Outsourcen“ von Sicherheit beenden. Das ist besonders eine Herausforderung für uns Deutsche. In den USA, aber auch in Europa entsteht der Eindruck: Die Deutschen sind die weltbesten Trittbrettfahrer. Sie haben den Handelsüberschuss, tun aber nichts für die Sicherheit der Handelswege. Das überlassen sie anderen. Es wäre schön, wenn eines der deutschen U-Boote mal in See stechen könnte. Wir haben sechs, aber keines ist einsatzfähig. Und wieso traut sich Europas stärkste Wirtschaftsmacht in Konflikten wie Syrien zu sagen: Wir machen nur die Fotos aus Aufklärungs-Tornados?

Das verletzt doch auch den Stolz der Bundeswehrsoldaten. Wir machen nur Dinge, bei denen man nicht nass wird. Das ist unwürdig. Im Privatleben kommt irgendwann der Moment, da kann man nicht mehr sagen: Ich habe eine so schwere Kindheit gehabt, da darf niemand erwarten, dass ich Abitur mache. Der Hinweis auf unsere Geschichte reicht weit, aber wir können uns nicht dahinter verstecken. Ich bin kein Militarist. Die meisten militärischen Interventionen der letzten 30 Jahre sind schief gegangen. Aber man muss fähig sein, Militär einzusetzen. Es ist eine Bedingung für erfolgreiche Diplomatie. Wenn die anderen wissen, dass Verhandlungen nicht unterlegt sind mit militärischen Fähigkeiten, dann kommt man nicht weit.

Warum hört man das so selten in der deutschen Öffentlichkeit?

Die Kanzlerin und ihre Minister sagen, wir könnten uns nicht mehr allein auf andere verlassen und müssten unser Schicksal in die eigene Hand nehmen. Sie sagen aber nicht, was das konkret bedeutet. Darauf haben die Bürger einen Anspruch. Es geht nicht allein um Verteidigungsausgaben, sondern um politische Handlungsfähigkeit. Die EU wird als Akteur nur respektiert, wenn sie dahin kommt, in der Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden. 2017 hat der US-Kongress zusätzliche Russland-Sanktionen verabschiedet wegen der Vorwürfe der Beeinflussung der US-Wahl.

In Deutschland hatte man den Eindruck, das richtet sich auch gegen das Pipeline-Projekt Nord Stream 2. Dann fährt der deutsche Außenminister nach Washington und trägt seine Bedenken vor. Doch der Großteil seiner europäischen Kollegen springt ihm nicht bei, weil die nämlich auch finden, dass diese Pipeline nicht im europäischen Interesse liegt. Das zeigt: Man kann europäische Außenpolitik nicht in Tortenstücke aufteilen: Bei Iran haben wir eine gemeinsame Linie, bei China und bei der Nord-Stream-Pipeline nicht. Dann wird man auseinander dividiert. Entweder wollen wir Europäer mit einer Stimme sprechen oder nicht.

Deutschland wird aber nicht immer in der Mehrheit in Europa sein…

Richtig. Das muss man dann aushalten, auch einmal überstimmt zu werden. Nach meiner Erfahrung gibt es nur ein Thema, wo man als Deutscher befürchten muss, auf unangenehme Weise majorisiert zu werden. Das ist Israel. Es ist vorstellbar, dass es in Europa eine Mehrheit für Sanktionen gegen Israel gibt, die für Deutschland nicht akzeptabel sind. Für solche Extremfälle muss es eine „Opt out“-Möglichkeit geben. Nord Stream hingegen ist ein Firmenprojekt, kein nationales Kerninteresse. Da geht es darum, wer überzeugender argumentiert.

Unter Helmut Kohl ist es ja in der Regel gelungen, dass Deutschland die anderen Länder mehrheitlich auf seiner Seite hatte. Wenn Europa in der Welt respektiert werden will, führt kein Weg vorbei an Mehrheitsentscheidungen. Generell muss die Bundesregierung den Bürgern reinen Wein einschenken, wie Europa handlungsfähiger werden kann. In letzter Zeit wird Europa fast nur nach dem Kriterium diskutiert: Das wird hoffentlich nicht noch mehr kosten! Als Maggie Thatcher forderte „I want my money back!“, haben wir Deutsche uns noch beschwert, das sei ein Europa für Krämerseelen und ihr fehle jede Vision von der Zukunft.

Mehr Europa wird aber mehr kosten?

Ja. Aber ich finde dieses Bild von Europa, in dem die anderen uns nur über den Tisch ziehen wollen, ziemlich widerlich. Diese Kassandrarufe, wie schrecklich eine Transferunion sei! Es gibt Gott sei Dank auch Konservative wie Jens Spahn, die sagen: Wir haben nichts gegen eine Transferunion, die wird früher oder später kommen müssen. Wir sollten nur vorher die Haftungsrisiken klären. Ich würde sagen: Je ehrlicher wir das tun und je besser wir die schlechten Banken und Kredite eliminieren, desto geringer ist die Gefahr, dass wir später in Mitleidenschaft gezogen werden. Wenn wir andere dazu bringen, sich so solide zu verhalten wie wir in Deutschland, dann wird das ein lösbares Problem und ist kein kategorisches Hindernis mehr, auch wenn viele Deutsche das behaupten.

Was für eine Weltordnung entsteht, wenn die Führungskraft der USA nachlässt, aber Europa heute nicht in der Lage ist, die entstehende Lücke zu füllen?

Der Wille der Amerikaner, das internationale System fast im Alleingang zu tragen, lässt nach. Diese Entwicklung ist älter als Trump. Die USA zahlen 20 Prozent des UN-Budgets, einen hohen Anteil der Kosten für die Weltbank, für die Flüchtlingshilfe und so weiter. Sie haben das liberale System erfunden und hatten über mehr als ein halbes Jahrhundert die politische, ökonomische und militärische Kraft, es zu erhalten.

Diese Bereitschaft wird schwächer. Amerikas Innovationskraft erlahmt dagegen nicht. In der digitalen Revolution sind die USA weit voraus. Doch die globalen Gewichte verlagern sich allmählich. Der „unipolare Moment“ ist vorbei. Amerika hat noch für einige Zeit ein enormes militärisches Übergewicht, aber China wird in einigen Jahren die Nummer Eins sein und technische Innovation nicht mehr nur konsumieren, sondern bestimmen. China hat tausend Mal mehr Ingenieure als wir. Amerikas Sonderrolle wird sich relativieren.

Was bedeutet das für uns?

Die Europäische Union müsste den Anspruch haben, der führende globale Akteur zu sein. Sie hat mehr Einwohner als die USA. Das amerikanische Pro-Kopf- Einkommen ist auch nicht mehr so viel höher wie früher. Ist die EU in der Lage, machtpolitisch aufzudrehen? In der Handelspolitik kann sie es ja und tut es auch. Es hängt vom Willen ab, von politischer Führung und von Persönlichkeiten, die in der Lage sind, 500 Millionen Europäer zu inspirieren. Europa braucht auch mal einen Obama. Wir haben zu viele alte und müde Figuren und zu wenig junge mitreißende Personen. Wo sind die 40-Jährigen, denen man zutrauen würde, in ein paar Jahren Europa zu führen? Leute mit der Energie eines Emmanuel Macron? Wir haben ein Führungsproblem, in Europa, aber auch in Deutschland.

Viele Spitzenpolitiker in der Union und der SPD würden gar nicht widersprechen. Aber sie würden es nicht öffentlich sagen. Erleben wir eine gewisse Feigheit, die Außen- und Sicherheitspolitik zu erklären?

Richtig. Daraus wird aber keine nachhaltige Politik. Die Bundesrepublik hat zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg Truppen in ein Nato-Land geschickt, nach Litauen, um diesem Partner ein Sicherheitsgefühl gegen Russland zu geben. Das weiß freilich kaum einer in Deutschland außerhalb der Expertenkreise. Wir übernehmen Risikohaftung, aber ohne die Bürger aufzuklären. Die Bundeskanzlerin trägt da eine Mitverantwortung.

US-Präsident Donald Trump mischt mit seiner Politik die Welt auf.
US-Präsident Donald Trump mischt mit seiner Politik die Welt auf.

© Carolyn Kaster/AP/dpa

Ein weiterer Reflex in der öffentlichen Debatte: Deutsche fordern gerne eine Emanzipation gegen Amerika statt mehr Handlungsfähigkeit innerhalb des Bündnisses mit Amerika.

Das ist der springende Punkt. Das Verhältnis ist ein bisschen wie bei dem erwachsen werdenden Sohn oder der Tochter. Die gehen aus dem Haus und sollen anfangen, ihr eigenes Geld zu verdienen. Das Ziel ist doch nicht, dass Sohn oder Tochter sich der Familie entfremden, sondern dass sie anfangen, eine wichtigere und selbständigere Rolle in der Familie zu spielen und Verantwortung für andere zu übernehmen. In der westlichen Gemeinschaft haben wir uns leider in Krisenfällen immer auf die USA verlassen. Als US-Verteidigungsminister Bob Gates in seiner Abschiedsrede vor der Nato 2011 sagte, das könne nicht so weitergehen, haben alle ihm beigepflichtet, auch in der Bundesregierung und in Fachkreisen. Doch geschehen ist nichts. Jetzt haben wir den Trump-Schock. Das ist unsere eigene Schuld. Hoffentlich ziehen wir jetzt die richtigen Lehren darauf: nicht weglaufen vor Amerika, sondern uns selbst ertüchtigen. Wir in Europa gehören zum Westen. Wir sind sogar der größere Teil des Westens.

Haben wir in Europa das gleiche Bild vom Westen?

Unsere Partner betrachten uns in der Sicherheitspolitik als geschickte Trittbrettfahrer. In der französischen Elite gibt es große Bedenken dagegen, gemeinsame Einheiten mit den Deutschen zu schaffen, weil man nicht wisse, ob der Bundestag im Krisenfall für den Einsatz stimmt oder nicht. Wir können zwar nicht die Beteiligungsrechte des Bundestags kippen. Aber in der Praxis könnte man einen Präferenzbeschluss fassen, dass integrierte Einheiten der Europäer oder der Nato, die ohne die deutschen Soldaten nicht einsatzfähig wären, von der Bundesregierung entsandt werden können. Der Bundestag sollte dann das Recht haben, sie zurück zu holen, wenn ihm der Einsatz nicht passt. Also ein Vetorecht statt der Vorbedingung der Zustimmung. Die Verbündeten brauchen das Gefühl, dass wir verlässlich sind. Das Argument, der Bundestag habe noch nie einen Antrag abgelehnt, ist dämlich, weil die Bundesregierung darauf achtet, dass nur Anträge in den Bundestag kommen, die eine Mehrheit haben. Sie bügelt bereits vorher alles ab, was auf Bedenken stoßen könnte.

Welche weiteren Erwartungen haben andere Europäer an uns Deutsche?

Die EU braucht einen Instrumentenkasten, der es ihr erlaubt, geschlossen aufzutreten. Dazu gehört auch, dass die Bundesregierung eine klare Position hat. Die Partner erleben zu oft, dass Bundesminister einer deutschen Koalition unterschiedliche Meinungen in Brüssel vertreten, je nachdem aus welcher Partei sie stammen. Das geht nicht. Wir brauchen einen Nationalen Sicherheitsrat oder ein Koordinierungsgremium. In Brüssel spottet man über „The German Vote“. Gemeint ist: Die Deutschen müssen sich in einer Abstimmung enthalten, weil die Koalitionspartner in Berlin sich nicht einigen können. Zum anderen haben die Partner manchmal den Verdacht, dass wir ihnen nicht die Wahrheit sagen. Wir formulieren ein angebliches Ziel, verfolgen in Wirklichkeit aber eine andere Politik. Transparenz ist wichtig. Die Bundesregierung sollte, zum Beispiel, alle vier Jahre ein Weißbuch zur Außen- und Verteidigungspolitik herausgeben: Was sind unsere Ziele, was wollen wir mittelfristig?

Wo soll Europa in zehn Jahren sein, und welche Mittel sind wir bereit dafür einzusetzen? Die Chinesen machen so etwas sehr akribisch in ganz vielen Politikbereichen. Ich weiß natürlich: Pläne werden bald von Ereignissen überholt. Aber der Prozess des Planens ist wertvoll, weil er kluge Menschen zwingt, sich mit den Themen auseinander zu setzen und Ziele zu definieren. Die Bundesregierung nutzt auch Expertenwissen zu wenig. Warum beruft sie nicht eine Kommission ein zu der Frage, was Deutschland tun kann, um den INF-Vertrag zu retten? Dieses Abkommen zur Begrenzung der Mittelstreckenraketen ist für unsere Sicherheit von enormer Bedeutung. Wie können wir die Russen und die Amerikaner dazu bringen, ihn zu respektieren? Wenn wir das nicht tun als größtes Land in der EU, wer sonst soll das machen?

Mit Wolfgang Ischinger sprach Christoph von Marschall für sein Buch „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“. Es erscheint am 20. August im Herder Verlag.

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