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Randale in der Silvesternacht in Kreuzberg und Neukölln. Feuerwehrmänner löschen eine brennende Barrikade aus Mülltonnen und Mietrollern an der Kreuzung Sanderstraße / Kottbusser Damm Berlin, Deutschland, 01.01.2023.

© Christian Mang

Update

„Das sind totale Dumpfbacken“: Neuköllner Integrationsbeauftragte fordert nach Silvester-Krawallen starken Staat

Bei den Attacken auf Rettungskräfte war Neukölln ein Brennpunkt der Gewalt. Integrationsbeauftragte Güner Balci und Psychologe Ahmad Mansour über die Hintergründe.

| Update:

Die Angriffe auf Polizei und Feuerwehr in der Silvesternacht in Berlin sind nach Ansicht der Neuköllner Integrationsbeauftragten Güner Balci nur von einer kleinen Gruppe ausgegangen. „Das sind totale Dumpfbacken“, sagte Balci in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ am Montag.

Einige der Personen kenne sie persönlich. Es handle sich dabei um „hoffnungslos Abgehängte“. Diese hätten, auch wegen sozialer Medien, anders als vor 20 Jahren aber eine hohe Deutungsmacht. Dennoch seien sie „platt gesagt: absolute Loser“, bei denen auch Drogen eine Rolle gespielt hätten.

Der Grund für die rohe Gewalt gegen die Helfer sei allerdings kein durchdachtes Agieren, sondern vielmehr ein Reflex, erläuterte Balci: „Die sind vom Staat und wir sind gegen die.“ Das sei aber kein typisch Neuköllner oder gar ein Berliner Problem. Diese Tendenz gebe es in allen Großstädten und vor allem in abgehängten Milieus, sagte die Integrationsbeauftragte.

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Inszenierten sich die Jugendlichen als „harte Möchtegern-Gangster gegen die Polizei“, erhöhe das ihre Glaubwürdigkeit auf der Straße. „Es ist ihr Geschäftsmodell, auffällig zu sein und Ärger zu machen.“

Die arabischen und türkischen Vereine sagen mir, es helfe nichts, wenn ein jugendlicher Straftäter dreimal den Schulhof fegen müsse.

Güner Balci, Neuköllner Integrationsbeauftragte

Balci rief dazu auf, vielmehr eine Debatte über die Abgehängten in der Gesellschaft zu führen anstelle einer Integrationsdebatte. Zwar sei unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund die Einstellung möglicherweise verbreiteter, sich gegen die Polizei zu stellen. Einen „kulturellen Clash“ sieht die Integrationsbeauftragte dabei aber nicht. „Deren Gewalt richtet sich genauso gegen den arabisch- oder türkischstämmigen Kiezpolizisten.“

Die Mehrheit der Neuköllner wünsche sich ein härteres Durchgreifen und einen stärkeren Staat, sagte Balci. „Die arabischen und türkischen Vereine sagen mir, es helfe nichts, wenn ein jugendlicher Straftäter dreimal den Schulhof fegen müsse.“ Die Vereine verlangten „nach Strafen mit Strahlkraft“.

Die Forderung nach einem Böllerverbot hält Balci für „nicht mehr als einen Schrei nach Hilfe“. Damit sich etwas ändere, müsse mehr geschehen. Wichtig sei, dass Konsequenzen schnell spürbar werden. Merke die Polizei, dass die Stimmung angespannt sei, müsse sie etwa schon um 20 Uhr Straßensperren errichten. Dies vermittele dann die Botschaft, dass der starke Staat früh eingreife und Randalen vorbeuge.

Psychologe: Ablehnung von Staat in bestimmten Milieus stärker

Der Psychologe und Autor Ahmad Mansour fordert hingegen eine bundesweite Integrationsdebatte. „Wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die nicht integriert ist, die nicht angekommen in dieser Gesellschaft ist. Eine Gruppe, die die Polizei und den Rechtsstaat teilweise verachtet und ablehnt. Da müssen wir darüber sprechen, wie wir diese Menschen erreichen und für unsere Gesellschaft gewinnen“, sagte Mansour am Montag in Berlin. 

Wir müssen endlich aufhören, solche Phänomene und Debatten punktuell wahrzunehmen.

Ahmad Mansour

Seinen Beobachtungen zufolge sind in Berlin unter den Angreifern junge Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Flüchtlinge gewesen. Immer wieder komme es zu Angriffen auf Polizisten und andere Einsatzkräfte – auch in anderen Städten. „Wir müssen endlich aufhören, solche Phänomene und Debatten punktuell wahrzunehmen“, forderte Mansour. 

In bestimmten Milieus sei die Ablehnung der Polizei und staatlicher Autoritäten sehr stark verbreitet. „In Berlin gibt es Gruppen von Jugendlichen, die den Staat als sehr schwach wahrnehmen, weil sie selbst aus sehr patriarchalen Strukturen kommen. Einige haben in ihren Heimatländern einen Polizeistaat erlebt und nehmen die demokratische Polizei als schwach wahr und suchen Streit und Kontakt mit diesen schwachen Polizisten“, sagte Mansour. Auch andere Einsatzkräfte wie die Feuerwehr würden als Vertreter des Staats wahrgenommen und verachtet.

Stimmen gegen Böllerverbot mehren sich

Böller- und Raketenverbote für Privatleute, wie etwa von der Gewerkschaft der Polizei gefordert, seien aus seiner Sicht keine Lösung. Das Wichtigste sei, die Menschen zu erreichen, zum Beispiel durch mehr Kommunikation und Begegnungen mit dem Sicherheitsapparat. „Wir müssen klarmachen, dass die Tatsache, dass man bei uns gegenüber Staat und Polizei Rechte hat, kein Ausdruck von Schwäche, sondern von Stärke ist“, sagte Mansour. 

Mansour wuchs in Israel in einer arabisch-palästinensischen Familie auf und lebt seit 2004 in Berlin. Er ist Autor von Büchern wie „Operation Allah – Wie der politische Islam unsere Demokratie unterwandern will“ und „Klartext zur Integration. Gegen falsche Toleranz und Panikmache“.

Man muss die Probleme klar benennen.

Tom Schreiber, SPD-Abgeordneter

„Diese Leute, egal welcher Nationalität, welcher Religion sie angehören, pfeifen auf diesen Rechtsstaat. Das Feindbild ist der Mensch in Uniform. Man muss die Probleme klar benennen“, sagte Tom Schreiber, Innenexperte und SPD-Fraktionsvize im Abgeordnetenhaus, am Dienstag dem Sender „Welt“.

„Ob wir mit einem Böllerverbot eine Beruhigung bekommen, wage ich zu bezweifeln“, sagte Schreiber. „Wichtig ist, dass wir uns 365 Tage im Jahr damit befassen und nicht immer erschrocken sind, wenn es dann zu Silvester passiert.“ Es gebe in der Koalition bei Grünen und Linken einige, „die ein Stück weit eine ablehnende Haltung zur Polizei haben, die Polizei sehr kritisch sehen“.

Der Neuköllner Sozialstadtrat Falko Liecke (CDU) forderte angesichts der Angriffe mehr Polizeipräsenz und die Einrichtung einer Brennpunktwache in dem Viertel. „Wir brauchen ein permanentes Auftreten der Staatsmacht, um zu zeigen, wer hier die Straße bestimmt“, sagte Liecke. „Der Staat darf sich hier nicht vertreiben lassen.“

Die Vorkommnisse in der Silvesternacht seien Ausdruck einer verfehlten Integrationspolitik. „Das sind überwiegend arabische Jugendliche, die hier völlig freidrehen, außer Rand und Band sind und unseren Staat vollkommen ablehnen“, sagte der Sozialstadtrat. Die Böllerei sei nur ein Mittel gewesen, um „mit aller Brutalität“ gegen den Staat vorzugehen.

Integrationspolitisch hat ein „völliges Versagen“ stattgefunden.

Falko Liecke (CDU), Neuköllner Sozialstadtrat

Integrationspolitisch habe ein „völliges Versagen“ stattgefunden, erklärte der CDU-Politiker. Der Bezirk bekomme vom Land nicht genügend Mittel und Unterstützung für die Kinder- und Jugendarbeit im Kiez. „Probleme hat man einfach laufen gelassen“, sagte Liecke.

Unterdessen wird auch Kritik an Debatte laut

Der Neuköllner SPD-Bundestagsabgeordnete Hakan Demir warnte vor einer Ethnisierung der Silvesterdebatte. „Die Vorgänge sind schlimm und empörend und durch nichts zu rechtfertigen“, sagte Demir. Man neige aber dazu, solche Debatten sofort zu ethnisieren. „Das führt nicht weiter“, betonte der Bundestagsabgeordnete. „Zum einen wissen wir nicht, wer daran wirklich beteiligt war. Und selbst wenn man die berechtige Vermutung äußern kann, dass es auch junge Menschen mit Migrationsgeschichte waren: Was bringt uns das?“

Die Menschen sind ja nicht gewalttätig, weil sie eine Migrationsgeschichte haben.

Hakan Demir, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Neukölln

Die Menschen seien ja nicht gewalttätig, weil sie eine Migrationsgeschichte hätten, erläuterte Demir. „Die meisten sind hier geboren, das sind deutsche Kids. Wir müssen viel mehr über die sozialen Ursachen solcher Ausschreitung reden und dafür Lösungen finden, etwa indem wir die Bildungsarbeit stärken, Armut bekämpfen, Teilhabe fördern.“

Der Berliner Abgeordnete Ferat Koçak (Linke Neukölln) kritisierte die Debatte scharf. „Statt über die zahlreichen Probleme dieses Bezirks zu sprechen, stürzen sich wohlbekannte Hetzblätter und Politiker*innen auf ein vermeintlich kulturelles Problem von migrantischen Jugendlichen beim Böllern“, beklagte der Politiker. Sie zündelten mit rassistischen Ressentiments und bereiteten damit den „Nährboden für rechten und rassistischen Terror wie in Hanau“, warnte Koçak. Die Debatte über ein Böllerverbot werde missbraucht, um rassistische Narrative der angeblich gefährlichen Migrant*innen zu verbreiten.

Angriffe auf Rettungskräfte seien „in keinem Bezirk, durch nichts zu rechtfertigen“, ebenso wenig wie Angriffe mit Feuerwerkskörpern auf Menschen oder Wohnungen, führte Koçak aus. „Wer sich aber ernsthaft mit der Berichterstattung über die Silvesternacht beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es sich hier um ein berlin- und deutschlandweites Problem handelt und erst recht keines, was sich einer bestimmten Migrationsgeschichte andeuten lässt.“

Statt stigmatisierender Zuschreibungen in Bezug auf migrantische Jugendliche brauchen wir einen entschiedenen Kampf gegen deren Perspektivlosigkeit und gegen den systematischen Rassismus, dem diese ständig ausgesetzt sind.

Ferat Koçak, Linken-Abgeordneter

Koçak rief zur Bekämpfung von Perspektivlosigkeit und Rassismus auf. „Ich vermisse eine Debatte mit derselben Leidenschaft zur Überwindung von Armut im Bezirk, zu Verdrängung und ständig steigenden Mieten oder dem eklatanten Personalmangel in Krankenhäusern und Behörden“, sagte er. „Statt stigmatisierender Zuschreibungen in Bezug auf migrantische Jugendliche brauchen wir einen entschiedenen Kampf gegen deren Perspektivlosigkeit und gegen den systematischen Rassismus, dem diese ständig ausgesetzt sind.“

Nach Angaben der Senatsinnenverwaltung fand rund die Hälfte der Angriffe in der Silvesternacht in Neukölln statt. Ein Schwerpunkt lag dabei in Norden des Bezirks. Polizeikräfte seien vor allem in den Stadtteilen Mitte, Neukölln und Schöneberg attackiert worden, hieß es.

Gewerkschaft der Polizei fordert Runden Tisch

Um solche Angriffe auf Einsatzkräfte in Zukunft zu verhindern, braucht es aus Sicht der Gewerkschaft der Polizei (GdP) rasch einen Runden Tisch mit Politikern und Praktikern sowie neue Ansätze in der Integrationspolitik. „Wir brauchen diese Debatte sofort, und wir brauchen Ergebnisse, klare Konzepte und einen Plan, wer was umzusetzen hat“, sagte der GdP-Bundesvorsitzende, Jochen Kopelke, am Dienstag. Eine Einsatznacht mit schockierenden Vorfällen wie in der Nacht auf Sonntag dürfe sich zum nächsten Jahreswechsel nicht wiederholen, betonte er, „somit ist der Zeitrahmen gesetzt“.

In vielen Fällen hätten „gruppendynamische Prozesse, Alkoholmissbrauch, Sozialisationsdefizite und die Verfügbarkeit pyrotechnischer Gegenstände zu dieser bestürzenden Eskalation“ geführt, sagte Kopelke. Gleichzeitig warnte er davor, „Menschen pauschal abzustempeln und als verloren zu erklären“. Die Menschen in den betroffenen Stadtteilen müssten die Übergriffe verurteilen und Wege finden, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Die Polizei könne dabei beraten, lösen könne sie die Probleme jedoch alleine nicht.

Der GdP-Chef forderte: „Die Bundesregierung muss ihrem Koalitionsvertrag gerecht werden und Integrationspolitik auf Bundesebene neu angehen.“ An dem von ihm vorgeschlagenen Runden Tisch sollten sich neben Politikern und Polizei auch Rettungskräfte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Sozialarbeiter und Integrationsbeauftragte beteiligen. In der Silvesternacht waren in mehreren Städten Polizei- und Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behindert sowie mit Böllern und Raketen beschossen worden. Besonders viele brutale Attacken erlebten Polizei und Feuerwehr in Berlin, wo mehr als 100 Menschen festgenommen wurden. (mit dpa)

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