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Präsident Erdogan habe in der Baupolitik versagt.

© Apa Images via Zuma Press Wire/action press

„Das größte Problem ist die Ignoranz“: Experten geben Erdogan Mitschuld an Todeszahlen

Tausende Menschen sind bei dem Erdbeben in der Türkei gestorben. Wissenschaftler machen die Baupolitik der Regierung dafür verantwortlich. Erdogan reagiert abweisend.

Verzweiflung in Malatya. „Da sind Menschen drin“, schluchzt ein Anwohner in der Dunkelheit vor den Trümmern eines siebenstöckigen Hauses. Einige habe er zusammen mit Nachbarn rausholen können, berichtet er dem Menschenrechtler Ömer Faruk Gergerlioglu, doch dann habe ein Nachbeben ihren Traktor verschüttet, und nun gebe es keine Hoffnung mehr.

Auf den Staat hätten sie vergeblich gewartet, sagt der Mann, und von dem erwarte er nichts mehr. „Erinnern sie sich, wie es nach dem großen Beben von 1999 hieß, der Staat habe versagt?“, fragt er. „Hier hat er wieder vollkommen versagt.“

Die Häuser in dieser Nachbarschaft seien alle neu gewesen, sagt der Mann. „Sie unterlagen der sogenannten Bauaufsicht, aber davon haben wir nichts gesehen. Und nun sind wieder tausende Menschen tot.“

18.000
Todesopfer mindestens gab es bei dem Erdbeben vor wenigen Tagen.

Wie dieses Haus in Malatya stürzten mindestens 6500 Gebäude bei den Erdbeben in Südostanatolien in dieser Woche ein, obwohl fachgerechte Bauten – wie in Japan und Chile – solchen Erdstößen durchaus widerstehen können. „Nie wieder“, hatte sich das Land geschworen, als bei dem großen Beben am Marmara-Meer im August 1999 mindestens 20.000 Menschen starben.

Dutzende Beben in 20 Jahren

Seither hat es mehr als ein Dutzend weitere Erdbeben in der Türkei gegeben, bei denen Menschen in den Trümmern eingestürzter Häuser starben.

80.000 Menschen seien in den vergangenen 100 Jahren bei Erdbeben in der Türkei gestorben, rechnete Bauminister Murat Kurum bei einer Katastrophenschutzübung vor drei Monaten vor – und diese Woche mussten wieder mehr als 18.000 sterben.

Wir machen nach jedem Beben dasselbe, nämlich: nichts. Es ändert sich nichts.

Kemal Kilicdaroglu, türkischer Oppositionsführer

„Was machen wir nach jedem Beben?“, fragte der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu nach dem Erdbeben von Izmir vor zweieinhalb Jahren, bei dem mehr als hundert Menschen starben.

„Wir lesen das Totengebet, wir weinen um die Toten, wir beten, dass es nie wieder geschieht. Und was machen wir dann? Wir machen nach jedem Beben dasselbe, nämlich: nichts. Es ändert sich nichts. Nicht in der Politik, nicht in der Zivilgesellschaft, nichts.“

Kemal Kilicdaroglu von der oppositionellen CHP tritt bei der Wahl im Mai als Präsidentschaftskandidat an.

© IMAGO/Alp Eren Kaya

„Diese Dinge geschehen einfach“, sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Besuch im Erdbebengebiet diese Woche zu einer verzweifelten Überlebenden. „Das ist Schicksal.“

Experten widersprechen dem Präsidenten

Vor den Kameras wies er in der verwüsteten Stadt Antakya anschließend alle Vorwürfe zurück, dass der Staat nicht auf das Unglück vorbereitet gewesen sei.

„Auf so eine Katastrophe vorbereitet zu sein, ist einfach nicht möglich“, sagte der Präsident. Experten widersprechen ihm.

Diese Dinge geschehen einfach. Das ist Schicksal.

Recep Tayyip Erdogan, türkischer Präsident über das Erdbeben

„Dieses Beben war vollkommen absehbar“, sagte der prominente Erdbebenforscher Naci Görür, der vor Frustration und Verzweiflung weinte, als er von dem Erdbeben erfuhr. „Jeder vernünftige Geologe in der Türkei hat das gewusst und gewarnt.“

6.500
Gebäude sind bei dem Erdbeben eingestürzt.

Seit dem Beben in Elazig vor drei Jahren, ganz nah am jetzigen Epizentrum, habe er gewusst, dass das nächste Beben die Stadt Kahramanmaras treffen würde — wie es jetzt geschah.

Seither habe er die Behörden ständig gedrängt, dass sie die Region schleunigst erdbebenfest machen müssten, sagt Görür.

Sie unterlagen der sogenannten Bauaufsicht, aber davon haben wir nichts gesehen. Und nun sind wieder tausende Menschen tot.

Ein Anwohner der zerstörten Stadt Malatya über die eingestürzten Häuser

„Ich habe in Elazig den Gouverneur und den Bürgermeister besucht und ihnen Vorträge gehalten, ich habe in Bingöl, Malatya, Kahramanmaras und Adiyaman mit den Gouverneuren und Bürgermeistern gesprochen, ich habe an Universitäten gesprochen und in Malatya öffentliche Vorträge gehalten, um die Bevölkerung zu warnen, dass sie auf einem Erdbeben sitzen, dass sie etwas unternehmen müssen.“

20.000
Menschen starben bei dem Marmara-Beben 1999 mindestens

Mit anderen Wissenschaftlern habe er ein Projekt für die Region entwickelt, das sie den örtlichen Behörden und dem staatlichen Planungsamt vorgelegt hätten. „Sie haben es alle abgelehnt.“

Ähnliche Erfahrungen machte der Verband der Baugeologen, als er vor zwei Jahren die Verwerfungslinien im jetzigen Katastrophengebiet untersuchte und die Ergebnisse mit den örtlichen Bürgermeistern besprechen wollte.

Helfer suchen in Hatay in der Türkei nach Überlebenden des Erdbebens.

© Kemal Aslan/Reuters

„Wir wollten, dass die Stadtverwaltungen unsere Erkenntnisse bei der Stadtplanung berücksichtigen, dass die Gebiete, die direkt auf der Verwerfungslinie liegen, für Bebauung gesperrt werden“, berichtete der Verbandsvorsitzende Hüseyin Alan jetzt der türkischen Presse.

Er sagte, er glaube nicht an Paläoseismologie, und er glaube nicht an unsere Studien.

Hüseyin Alan, Präsident des Verbands der Baugeologen, über den Bürgermeister von Kahramanmaras

Doch der Bürgermeister von Kahramanmaras habe rundweg abgelehnt. „Er sagte, er glaube nicht an Paläoseismologie, und er glaube nicht an unsere Studien“, sagte Alan. Ein Treffen habe es dann auch nicht gegeben.

„Die wissenschaftsfeindlichste Regierung, die das Land je hatte“

Wissenschaftsfeindlich sei die Regierung Erdogan, sagt der Meinungsforscher Bekir Agirdir, „die wissenschaftsfeindlichste Regierung, die das Land je hatte“. Diese Ansicht teilt auch Celal Sengör, ein international anerkannter Geologe, der letztes Jahr vor Gericht gestellt wurde, weil er die historische Existenz von Stammvater Abraham angezweifelt hatte.

Das größte Problem der Türkei ist die Ignoranz.

Celal Sengör, Geologe

„Um der Erdbebengefahr zu begegnen, muss man verstehen, womit man es zu tun hat“, sagte Sengör jetzt im türkischen Fernsehen. „Das ist ein Naturereignis. Dazu muss man die Natur verstehen.“ Die Regierung habe aber Erdkunde aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen und den Geologie-Unterricht an Gymnasien abgeschafft.

„Wie kann man den eigenen Planeten aus dem Lehrplan streichen?“, sagte Sengör. „Das größte Problem der Türkei ist die Ignoranz. Solange unsere Gesellschaft so ignorant bleibt, werden wir gegen die Zerstörungskraft der Erdbeben nichts ausrichten können.“

Dabei wäre das durchaus möglich, sagt der Wissenschaftler: „Natürlich kann man erdbebenfeste Häuser bauen.“ Dazu müsse man die Verwerfungslinie analysieren und bestimmen, ob das Beben tief sein werde oder flach, wie schwer es werde und ob es sich entlang der Verwerfungslinie verbreiten werde oder quer dazu.

Natürlich kann man erdbebenfeste Häuser bauen.

Celal Sengör, Geologe

„Das kann man alles wissen und bestimmen und entsprechende Häuser und Straßen bauen.“ Auch bestehende Bauten zu verstärken, sei nicht schwer – bei seinem eigenen Haus habe das nur zwei Tage gedauert. Drei bis vier Jahre hätten nach seiner Einschätzung locker gereicht, um das landesweit zu machen. „Aber das Marmara-Beben ist 23 Jahre her, und was ist getan worden? Nichts.“

Istanbul ist eng bebaut. Ein Erdbeben hätte hier verheerende Folgen.

© dpa/Emrah Gurel

Schlimmer als nichts, sagen Ingenieure, Architekten und Stadtplaner: Die Regierung Erdogan habe die Katastrophe mit einer leichtsinnigen und habgierigen Baupolitik geradezu herausgefordert.

Schwarzbauten durch „Gesetz für den Baufrieden“ legalisiert

Sie habe nicht nur Flughäfen und Krankenhäuser gegen wissenschaftlichen Rat auf Verwerfungslinien gebaut, sie habe öffentlichen Boden privatisiert, Rettungswege und Versammlungsplätze zugunsten von Einkaufszentren abgeschafft. Vor allem habe sie vor dem verbreiteten Pfusch am Bau wissentlich die Augen verschlossen – und dafür Geld genommen.

13
Millionen Schwarzbauten wurden durch die Amnestie legalisiert

„Gesetz für den Baufrieden“ hieß eine Amnestie, mit der vor fünf Jahren Millionen Schwarzbauten legalisiert wurden.

„Mit diesem Baufrieden will der Staat den vielen Bürgern entgegenkommen, die in Schwarzbauten leben, und Frieden mit ihnen schließen, damit sie Wasser, Strom und Gas anschließen können und ihre Lebensqualität verbessert wird“, begründete Bauminister Kurum das Gesetz damals.

Du gibst mir Geld, und ich verschließe die Augen und reiße deinen Schwarzbau nicht ab.

Pelin Pinar Giritlioglu, Professorin an der Universität Istanbul, über die Logik der Amnestie

Landesweit meldeten sich 13 Millionen Eigentümer und bezahlten zusammen mehr als 20 Milliarden Lira in die Staatskasse, um ihre Bauten zu legalisieren. Das entsprach damals etwa drei Milliarden Euro.

Das Ergebnis sei absehbar gewesen, meint Pelin Pinar Giritlioglu, Professorin an der Universität Istanbul und Vorstandsmitglied der Berufskammer der Stadtplaner. „Diese 13 Millionen Bauten waren teils komplette Schwarzbauten, teils auch legale Bauten, die nachträglich illegal verändert wurden”, sagte Giritlioglu dem Tagesspiegel

75.000
Bauherren meldeten sich alleine in den Provinzen Hatay und Antep für die Amnestie

„Sie sind bei der Amnestie alle legalisiert worden mit diesem Gesetz, das weder mit der Verfassung vereinbar ist noch mit juristischer Logik oder Menschlichkeit. Das Gesetz sagt einfach: Du gibst mir Geld, und ich verschließe die Augen und reiße deinen Schwarzbau nicht ab.”

Auch in den jetzt vom Beben zerstörten zehn Provinzen der Türkei sei das so gewesen, sagt Giritlioglu; allein in den Provinzen Hatay und Antep meldeten sich jeweils 70.000 bis 75.000 Bauherren für die Amnestie.

„Daran sehen wir, dass es da mindestens so viele Häuser gab, die entweder komplett schwarzgebaut waren oder illegal baulich verändert. Und viele davon sind nun eingestürzt.”

Sie haben vor allen Warnungen die Ohren verschlossen – und jetzt ist es passiert, und die Türkei liegt unter Trümmern.

Pelin Pinar Giritlioglu, Professorin an der Universität Istanbul und Vorstandsmitglied der Berufskammer der Stadtplaner

Amnestien für Bausünder haben eine lange Tradition in der Türkei – auch frühere Regierungen versuchten damit der rapiden und unkontrollierten Verstädterung des Landes zu begegnen.

Seit Jahrzehnten rollt die Landflucht in die Städte, wo Neuankömmlinge immer neue, ungeplante Viertel an den Stadtrand bauten, die dann irgendwann legalisiert und ans städtische Versorgungsnetz angeschlossen wurden.

Seit dem großen Erdbeben von 1999 galten Bauamnestien aber lange als tabu – bis die Regierung angesichts leerer Kassen vor fünf Jahren wieder darauf zurückgriff.

Solche Amnestien kämen immer vor Wahlen auf die Tagesordnung, klagte die Architektenkammer kürzlich – ein regelrechter Anreiz, weiter schwarz zu bauen. Tatsächlich lag ein Entwurf für eine neue Amnestie vor dem jüngsten Beben schon im zuständigen Parlamentsausschuss.

Vergeblich protestieren Berufsverbände und Kammern von Architekten, Ingenieuren und Stadtplanern seit Jahren gegen diese Politik der Regierung. “Als Querulanten und sogar als Terroristen haben sie uns beschimpft”, sagt Giritlioglu. “Sie haben vor allen Warnungen die Ohren verschlossen – und jetzt ist es passiert, und die Türkei liegt unter Trümmern.”

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