zum Hauptinhalt
 Ein Gasleck an der Nord Stream 2 Leitung in der Ostsee.

© Foto: Rune Dyrholm/dpa

Spuren von Unterwassersprengstoff gefunden: Wer zerstörte die Nord-Stream-Pipelines? Die wichtigsten Theorien und Spuren

Russland, die Ukraine, Geheimdienste oder Privatleute: Wer verübte den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines? Ein Überblick über die wichtigsten Theorien und was dahinter steckt.

Die Bilder der blubbernden Ostsee gingen um die Welt: Riesige Mengen aufsteigendes Gas wühlten im vergangenen Herbst an mehreren Stellen großflächig die Wasseroberfläche auf. Es stammte aus den beschädigten Nord-Stream-Leitungen.

Was sich zuvor am Grund abgespielt hat, ist seit Monaten Gegenstand von Ermittlungen, Spekulationen und Medienberichten – und eine Aufklärung auch gut neun Monate nach dem Vorfall weiter ungewiss. Nun gibt es neue Erkenntnisse dazu, was in der Ostsee vorgefallen sein könnte.

Am 26. September 2022 waren Explosionen in der Nähe der dänischen Insel Bornholm registriert worden. Wenig später wurden vier Lecks an drei der insgesamt vier Leitungen entdeckt. Der Betreiber von Nord Stream 1 sprach später von metertiefen Kratern und weit verteilten Trümmern am Meeresgrund.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Eine Recherche des deutschen Fernsehsenders RTL, der französischen Zeitung „Libération“ und der dänischen Zeitung „Ekstra Bladet“ hat nun jedoch ergeben, dass die Zerstörung möglicherweise doch nicht so groß ist wie bislang angenommen.

Hierfür werteten die internationalen Journalisten exklusive Filmaufnahmen aus, worauf ihren Angaben zufolge zu sehen ist, dass die Explosion an einer der zwei Röhren von Nord Stream 2 wesentlich weniger Schaden anrichtete als die siebzehn Stunden später erfolgte Sprengung von Nord Stream 1, gut 80 Kilometer entfernt.

Fachleute waren bislang davon ausgegangen, dass die Schäden an beiden Pipelines nur mit großen Mengen Sprengstoff verursacht werden konnten. Die Aufnahmen des norwegischen Unternehmen Blueye suggerieren nun jedoch etwas anderes.

250
Meter groß soll die Lücke sein, die in die Nord-Stream-1-Pipeline gesprengt wurde.

Mit einer Unterwasserdrohne suchten Experten den Meeresboden vor der dänischen Insel Bornholm ab. Dabei kamen sie laut RTL zur Erkenntnis, dass die Pipeline nur an einer Stelle gebrochen ist und sehr sauber mit einem einzigen Riss in der Mitte im Wasser steht.

Eine Explosion aufgrund von mehreren Hundert Kilogramm Sprengstoff sei damit so gut wie auszuschließen. „Dafür hätten wir überall kaputten Beton, zerkratztes Metall, Brandspuren und zerborstene Röhren finden müssen, was wir nicht haben“, wird der dänische Geheimdienstexperte Oliver Alexander zitiert. „Hier sieht es eher nach einer Präzisionssprengung aus.“

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent hat hier ein kleiner Sprengsatz von außen die Explosion provoziert.

Lars Nohr-Nielsen, Sprengstoff-Experte bei  Force Technology

Damit unterscheidet sich der Zustand stark von dem der Nord-Stream-1-Pipeline, wo eine 250 Meter große Lücke in der Pipeline klaffen soll. Vom britischen Sender BBC und der schwedischen Tageszeitung „Expressen“ veröffentlichte Unterwasseraufnahmen zeigen das Ausmaß der Verwüstung über einen großen Radius hinweg: Auf dem Meeresboden verteilte Bruchstücke, Zerborstenes und Pipelinefetzen.

Relativ rasch nach den Sprengungen äußerten Experten ihren Verdacht, dass für derartige Schäden große Mengen Sprengstoff vonnöten seien. Dass dies für die erste Detonation möglicherweise nicht zutrifft, wird nun erst durch die Erkenntnisse der RTL-Recherche deutlich.

Der Sprengstoff-Experte Lars Nohr-Nielsen der Firma Force Technology sagte den Journalisten: „Ich würde sagen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent hat hier ein kleiner Sprengsatz von außen die Explosion provoziert. Also eine Hohlladung. Für die Platzen der Pipeline hat dann der innere Gasdruck ausgereicht.“

Das bedeutet, dass die Sprengungen auf höchst unterschiedliche Weise verursacht wurden und dafür möglicherweise sogar zwei unterschiedliche Akteure infrage kommen.

Wo verlaufen die Nordstream-Pipelines?

Nord Stream 1 und 2 verlaufen jeweils als Unterwasser-Doppelstrang über eine Strecke von rund 1200 Kilometern von Russland nach Deutschland. Nord Stream 1 lieferte seit 2011 einen erheblichen Anteil des nach Europa importierten Gases.

Allerdings hatte Moskau die Lieferungen im Zuge der Konfrontation mit dem Westen nach seinem Angriff auf die Ukraine schon vor der Zerstörung gedrosselt – und dann ganz eingestellt. Die neuere Nord-Stream-2-Pipeline war bereits mit Gas gefüllt, aber mangels Zertifizierung noch nicht in Betrieb. Hiervon wurde Strang A zerstört, durch den intakten Strang B fließt offenbar noch Gas.

Staatsanwaltschaft: Kein Unfall

Dass es kein Unfall war, urteilte die schwedische Staatsanwaltschaft bereits vor mehr als einem halben Jahr. Die Explosionen ließen sich auf schwere Sabotage zurückführen, erklärte der Staatsanwalt Mats Ljungqvist Mitte November.

Analysen hätten Sprengstoffreste an mehreren Fremdkörpern gezeigt. Ex-BND-Präsident Gerhard Schindler hatte der „Welt“ kurz nach dem Vorfall gesagt, eine „unbemerkte, konspirative Beschädigung von Pipelines in 80 Meter Tiefe in der Ostsee“ weise klar auf einen staatlichen Akteur hin.

Aber wer steckt hinter den Anschlägen? Eine Übersicht der Theorien:


1. Die „Andromeda“-Spur

In Deutschland haben die Ermittler Berichten zufolge eine gecharterte Segeljacht in den Fokus genommen, mit der das Sabotageteam mutmaßlich unterwegs war. ARD, SWR und „Zeit“ hatten im März berichtet, dass ein Kommando den Ermittlungen zufolge von Rostock aus in See gestochen sein soll. Spuren sollen demnach auch in die Ukraine führen.

So hieß es in dem Bericht, die Jacht soll von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sein, die offenbar zwei Ukrainern gehöre. Späteren Medienberichten zufolge handelte es sich um das Schiff „Andromeda“ eines Vermieters von der Insel Rügen, wo es im Fischerdorf Wiek sowie an der dänischen Insel Christiansø Stopps eingelegt haben soll.

Nun kam heraus: Die zuständigen Ermittler haben an einer verdächtigen Segeljacht Spuren von Unterwassersprengstoff gefunden, wie die UN-Botschaften Deutschlands, Dänemarks und Schwedens in einem gemeinsamen Brief an den UN-Sicherheitsrat in New York schrieben.

In dem auf den 11. Juli datierten Schreiben heißt es, es bestehe der Verdacht, dass die Segeljacht zum Transport des Sprengstoffs genutzt worden sei, der bei der Sabotage im September eingesetzt wurde. Wahrscheinlich geht es um die Jacht „Andromeda“, die schon länger im Fokus der Untersuchungen steht, doch geht dies nicht eindeutig aus dem Brief hervor.

In dem Schreiben heißt es, die Ermittler seien dabei, die genaue Route des Bootes nachzuzeichnen. Man habe herausgefunden, dass das Boot im Namen einer Person angemietet worden sei, die Dokumente verwendet habe, mit denen die Identität des echten Mieters verschleiert werden sollte. Ob sich diese Person tatsächlich dann an Bord befunden habe, sei noch nicht festgestellt worden.

Nach Experteneinschätzungen sei es möglich, dass ausgebildete Taucher Sprengsätze an den Orten angebracht haben könnten, an denen die Gasleitungen beschädigt worden seien, heißt es in dem Schreiben weiter.

Unterzeichnet war es von der deutschen UN-Botschafterin Antje Leendertse sowie den Botschafterinnen Dänemarks und Schwedens. Die Landesvertreterinnen betonten gegenüber dem mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen, dass die Ermittlungen andauerten – und die Täterfrage ungeklärt sei.

„Zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, die Identität der Täter und ihre Motive zuverlässig zu klären, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob der Vorfall von einem Staat oder einem staatlichen Akteur gesteuert wurde.“ 

Der Staatsanwaltschaft in Danzig zufolge weisen die polnischen Ermittlungen darauf hin, dass die Jacht tatsächlich mit sechs Menschen auch nach Polen gesegelt sei und einen Hafen angefahren habe. Nach einem zwölfstündigen Aufenthalt habe sie die polnischen Hoheitsgewässer aber wieder verlassen.

Während des Aufenthalts seien keine Gegenstände an Bord genommen worden, auch der Grenzschutz habe die Besatzung kontrolliert. Und: Es gebe aber keine direkten Beweise für eine Beteiligung der Personen auf der „Andromeda“ an der Beschädigung der Nord-Stream-Pipelines.

Eine weitere Spur der deutschen Ermittler führt auch ins brandenburgische Frankfurt-Oder. Hier wurde die Wohnung einer nicht verdächtigen Person am 25. Mai durchsucht. Nach Recherchen von NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ soll es sich dabei offenbar um die ehemalige Lebensgefährtin eines ukrainischen Tatverdächtigen handeln.


2. Russische Schiffsbewegungen

Die mediale Aufmerksamkeit in Skandinavien folgt in erster Linie einer anderen Spur – und die führt nach Russland. Wie Investigativjournalisten aus Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland berichteten, haben sich in den Monaten und Tagen vor den Explosionen mehrere russische Militärschiffe in der Nähe der Tatorte aufgehalten.

Dabei sollen die Schiffe ihre Sender abgestellt haben und somit unter dem Radar gefahren sein. Ein Flottenschiff mit abgestelltem Sender und der Möglichkeit zu Unterwassereinsätzen, der Schlepper „SB-123“, sei fünf Tage vor den Detonationen an den Explosionsorten gewesen, zwei weitere – die „Sibirjakow“ und ein anderes, das nicht identifiziert wurde – bereits im Juni.

Das dänische Militär hatte zuvor bereits bestätigt, dass das russische Spezialschiff „SS-750“ vier Tage vor den Detonationen in Tatortnähe fotografiert worden war. Das Schiff verfügt über ein Mini-U-Boot mit Greifarmen.


3. Geheimdienste wussten etwas

Für Aufsehen sorgte jüngst ein Artikel in der „Washington Post“, demzufolge die US-Regierung drei Monate vor den Explosionen von einem europäischen Geheimdienst von einem Plan des ukrainischen Militärs erfahren haben soll.

Demnach sollte ein geheimer Angriff auf die Pipelines mithilfe von Tauchern durchgeführt werden. Auch wenn die USA die Berichte zunächst nicht unabhängig bestätigen hätten können, schrieb das Blatt weiter, seien die Informationen mit den Geheimdiensten Deutschlands und anderer Länder geteilt worden.

Die Glaubwürdigkeit frühzeitiger Hinweise wurde damals nach dpa-Informationen von denjenigen in den Sicherheitsbehörden, die davon wussten, als niedrig eingestuft.

Was die deutschen Behörden dann nach dem Anschlag von einem ausländischen Nachrichtendienst hörten, soll deutlich konkreter gewesen sein und auch nützliche Ansatzpunkte für die Ermittlungen geliefert haben, die dann auch zu dem durchsuchten Boot führten.

Ukraine, Polen und Russland bestreiten Beteiligung

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestritt eine Beteiligung seiner Regierung an den Sabotage-Aktionen. „Nichts dergleichen hat die Ukraine getan. Ich würde nie so handeln“, sagte Selenskyj jüngst in einem Interview von „Bild“, „Welt“ und „Politico“.

Auch Polen bestreitet eine Verbindung zur Sabotage. „Die in Medien verbreitete Behauptung, Polen sei eine logistische Drehscheibe für die Sprengung der Nord Stream-Pipeline gewesen, ist völlig unwahr und wird durch die Beweise der Ermittlungen nicht gestützt“, teilte die Staatsanwaltschaft in Danzig mit.

Der Sprecher des Koordinators der Geheimdienste, Stanislaw Zaryn, schrieb auf Twitter: „Die Hypothese bleibt gültig, dass die Sprengung von Russland begangen wurde, welches ein Motiv und die Fähigkeit hatte, eine solche Operation durchzuführen.“

Moskau hat Vorwürfe, an der Sabotage von Nord Stream beteiligt zu sein, stets dementiert und fordert seit der Explosion der Pipelines im vergangenen Herbst, an den Untersuchungen beteiligt zu werden. Auf eigener Seite hat der russische Inlandsgeheimdienst FSB zwei Tage nach dem Vorfall ein Verfahren wegen Terrorismus eingeleitet.

Auch das Zentrale Ermittlungskomitee ist an der Sache dran. Konkrete Ergebnisse hat Moskau bisher nicht präsentiert – und bleibt bei seiner Überzeugung, ein westlicher Geheimdienst stecke dahinter.

Während die deutschen Behörden keine Prognose zu Zeit und einem vor Gericht verwendbaren Ergebnis abgeben wollen, zeigt sich der schwedische Staatsanwalt Ljungqvist optimistisch, dass man die Verantwortlichen für die Tat am Ende doch benennen kann.

Er hoffe, dass man im Herbst Stellung zur Täterfrage nehmen könne – das sei zumindest das Ziel, sagte er jüngst im schwedischen Radio. (Tsp, mit Dpa)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false