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Am Samstag empfing der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew.

© dpa/---

EU-Beitritt der Ukraine: Brüssel ist dabei, falsche Hoffnungen zu wecken

Noch in diesem Jahr will der Europäische Rat entscheiden, ob mit der Ukraine Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufgenommen werden sollen. Damit tut man dem Land keinen Gefallen.

Ein Kommentar von Anja Wehler-Schöck

Bis zum 24. Februar 2022 schien es nahezu undenkbar: Dass die Ukraine auf absehbare Zeit Mitglied der EU wird. Nun wirkt es plötzlich sehr nahe. Die russische Invasion, die die Ukraine von Europa entfernen sollte, hat stattdessen zu einer deutlichen Annäherung geführt. Vier Monate nach Kriegsbeginn erhielt die Ukraine 2022 den Status eines EU-Beitrittskandidaten.

Fast 90 Prozent der Ukrainer geben in Umfragen inzwischen an, eine EU-Mitgliedschaft zu befürworten. Vor zehn Jahren, zu Beginn der pro-europäischen Maidan-Demonstrationen, waren es nur um die 50 Prozent.

Im Dezember soll der Europäische Rat nun über den Beginn offizieller Beitrittsverhandlungen entscheiden. An diesem Mittwoch will die EU-Kommission ihren Bericht zu den Reformfortschritten der Ukraine vorlegen. Wie dessen Tenor ausfallen wird, daran lässt das überschwängliche Lob, das Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Kiew am Wochenende verteilte, wenig Zweifel.

Im Angesicht von Putins brutalem Angriffskrieg und seinen imperialen Ambitionen ist das eine wichtige Botschaft in Richtung Kiew wie Moskau: Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU. Gleichzeitig ist es essenziell, keine falschen Hoffnungen zu schüren. Denn weder die Ukraine noch die EU sind derzeit reif für diesen Schritt.

Die Ukraine befindet sich mitten in einem Krieg, dessen Ende – und Ausgang – bislang nicht abzusehen sind. Niemand kann momentan wissen, wie die Ukraine danach aussehen wird, welche Veränderungen und Umbrüche das Land bis dahin erfahren wird. Außer Frage steht, dass der Krieg tiefe Wunden, unzählige Tote und Verletzte und ein unfassbares Maß an Zerstörung hinterlassen wird.

Realistische Ziele und verbindliche Zusagen sind nötig

Dass es die Ukraine nicht nur geschafft hat, die russische Invasion aufzuhalten, sondern parallel auch interne Reformen umzusetzen, ist eindrucksvoll. Aber ein EU-Beitrittsverfahren ist hochkomplex. Eine Regierung, die sich in einem existentiellen Krieg befindet, kann sich nicht darauf nicht konzentrieren wie in Friedenszeiten. Das Verfahren darf für die ukrainische Regierung auch nicht zur Ablenkung werden. Die Priorität muss klar sein: Russland zurückdrängen und in der Ukraine Frieden schaffen.

Auch die EU ist nicht bereit für die Erweiterung. Wenn sie sich nicht vollends lähmen und schwächen will, darf sich die EU nicht ohne Reform vergrößern. Der Austausch der Mitglieder dazu lag lange brach. Die Diskussion um die Aufnahme der Ukraine hat ihm jetzt neuen Schwung verliehen.

Am 2. November lud die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock zu einer Europakonferenz zur EU-Erweiterung, zu EU-Reformen und globaler Handlungsfähigkeit der EU ins Auswärtige Amt in Berlin.

© dpa/Jörg Carstensen

Doch über die zentralen Fragen Einigkeit zu erzielen, ist derzeit kaum vorstellbar. Muss das Konsensprinzip abgeschafft werden? Welche Kompetenzen gehören nach Brüssel, welche in die Mitgliedstaaten? Schon bei Themen, die in der EU bereits vertraglich geregelt sind – man denke an die Auseinandersetzung mit Polen und Ungarn um die Rechtsstaatlichkeit –, gibt es derzeit Streit.

Den Menschen in der Ukraine, die derzeit nicht nur um die Zukunft ihres Landes, sondern auch um die Zukunft Europas kämpfen, Hoffnung zu machen, ist wichtig. Die Grundlage dafür muss aber sein: realistische Ziele und verbindliche Zusagen.

Dass ein Kandidat wie Nordmazedonien seit 17 Jahren in einer Warteschleife hängt, darf sich nicht wiederholen. Der Blick auf den Westbalkan zeigt, welche Folgen das haben kann: Enttäuschte Hoffnungen schlagen in anti-europäische Ressentiments um. Die EU darf keinesfalls riskieren, dass die Stimmung in der Ukraine kippt. Es wäre hochgefährlich – gerade in Kriegszeiten.

Die Beitrittsperspektive ist für die Ukraine ein wichtiges Signal. Mit der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt im Kriegszustand ein formelles Beitrittsverfahren zu eröffnen, ist jedoch keine realistische Option. Zunächst muss Klarheit über die Zukunft der Ukraine herrschen – nicht zuletzt, weil der EU-Vertrag eine Beistandspflicht enthält.

Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Dafür braucht sie kontinuierliche militärische Unterstützung aus Europa. Wenn in den USA derzeit der Widerstand gegen eine Fortsetzung der Ukrainehilfen erstarkt, dann verdeutlicht das eines umso mehr: Europa muss liefern. Zuverlässig, umfassend und schnell.

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