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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #50: Wie ist die Energie-Lage in Europa?

Ungarn spielt Russisches Energie-Roulette +++ Zahl der Woche: 10 +++ Warten auf den Angriff +++ „Eisbär“ zerstört mehrere Unterwasserkabel +++ „Frankreichs AKW-System ist wieder ein Aktivposten für die Energieversorgung“

Hallo aus Berlin,

die Konflikte um uns herum eskalieren mit unglaublicher Geschwindigkeit. Nachdem wir in Europa schon seit gut eineinhalb Jahren mit dem Krieg in der Ukraine leben, sehen wir seitKurzem einen antisemitischen Flächenbrand in vielen Ländern und den Ausbruch eines weiteren Kriegs zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel, unter dem Tausende Zivilisten leiden. Für die Menschen im Gazastreifen bedeuten die Kämpfe auch Energieknappheit – was besonders mit Blick auf den Weiterbetrieb der Krankenhäuser verheerend ist.

Vor einem Jahr haben wir viel über Energie und das Heizen gesprochen. Viele fragten sich, wie wir angesichts unserer Abhängigkeit von russischem Gas durch den Winter kommen würden. Letztendlich kam es weniger schlimm als gedacht, sei es aufgrund des milden Winters oder auch, weil viele Menschen sparsam beim Energieverbrauch waren.

Erstaunlicherweise spricht vor dem nun anstehenden Winter kaum jemand mehr über das Energiesparen, zumindest nicht in Deutschland und sicherlich nicht mit Blick auf die Sicherheitslage. Aktuell beherrschen vielmehr die beiden Konflikte selbst die Schlagzeilen. In Deutschland tauchte das Thema Energiesparen zuletzt eher im Zusammenhang mit dem Gebäudeenergiegesetz auf, und dann mit dem Verdacht, dass die böse grüne Verbotspartei den Hausbesitzern hier wieder ein paar Zwänge auferlegen will.

Wir stellen in diesem Newsletter daher die Frage: Hat sich die Energiesituation tatsächlich verändert? Können wir uns aus versorgungstechnischer Perspektive in diesem Winter entspannt zurücklehnen?

Teresa Roelcke, dieswöchige Chefredakteurin

Ungarn spielt Russisches Energie-Roulette

Während sich die meisten EU-Länder mit „Siegesmeldungen“ über die (angebliche) Abkehr von der Energieabhängigkeit von Russland brüsten, äußern sich ungarische Politiker mit Worten, die Wladimir Putin deutlich besser gefallen dürften. Zuletzt kamen diese vom Chefdiplomaten des Landes, Außenminister Péter Szijjártó, der international vor allem für seine freundschaftlichen Besuche bei asiatischen Diktaturen bekannt ist.

In seiner Rede zur Eröffnung der Eurasischen Sicherheitskonferenz in Minsk sagte Szijjártó: „Wir sehen Energiesicherheit realistisch, nicht als eine politische Frage.“ Er fügte hinzu, Ungarn werde weiterhin eine pragmatische Zusammenarbeit mit Russland pflegen.

Konkret heißt das: Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen ist für Budapest nach wie vor kein Thema. Dabei wird im Bericht der Europäischen Kommission zur Lage der Energieunion betont, dass eine derart hohe Abhängigkeit tatsächlich eine Gefahr für die Versorgungssicherheit Ungarns darstellt.

Ob russisches Gas wirklich die einzige Lösung ist, wie die Regierung regelmäßig behauptet, ist zumindest fragwürdig, da Ungarn dank der Pipelineverbindungen zu den Nachbarländern über mehrere Alternativen verfügt.

Tatsächlich gibt es sogar Pläne, die Gasimporte weiter zu diversifizieren. Mit einem Anschluss an die Ostseepipelines könnte Gas aus der Nordsee direkt nach Budapest geliefert werden. Im vergangenen Jahr hat darüber hinaus Rumänien die Erschließung des Neptun-Gasfeldes im Schwarzen Meer wieder aufgenommen. Ungarn könnte ein wichtiger Abnehmer für dieses Gas werden. Des Weiteren wurde – im Einklang mit dem entsprechenden Programm der Europäischen Union – auch begonnen, Gas aus Aserbaidschan zu kaufen.

Trotz alledem hat die ungarische Regierung aber offenbar nicht die Absicht, aus einem 15-jährigen Gasliefervertrag auszusteigen, den Premier Viktor Orbán 2021 mit Gazprom unterzeichnet hatte. Die Führung betont die Bedeutung des Vertrags: dieser gewährleiste eine vorhersehbare, langfristige Versorgung und einen ermäßigten Preis.

Wenige Wochen vor dem Einmarsch in die Ukraine hatte Putin tatsächlich behauptet, mit dem Vertrag würde Ungarn Gas zu einem Fünftel des Marktpreises erhalten. Doch das erwies sich als Lüge; die Energiepreise blieben auch für Budapest volatil. Die ungarische Bevölkerung ist sich dieses Betrugs weitgehend nicht bewusst.

Balázs Tiszai schreibt für hvg.hu in den Ressorts Wirtschaft und Energie.

Zahl der Woche: 10

Als Bulgarien im Oktober eine „Strafsteuer“ von zehn Euro pro Megawattstunde auf den russischen Erdgastransit einführte, schimpften das benachbarte Serbien und das EU-Mitglied Ungarn.

Die beiden Moskau-freundlichen Regierungen dort bezeichneten die bulgarische Maßnahme als einen „feindseligen“ Schritt, der ihre Energiesicherheit vor der winterlichen Heizperiode gefährde.

Die Steuer entspricht etwa 20 Prozent der europäischen Benchmark-Gaspreise und dürfte dem bulgarischen Fiskus in diesem Winter rund 1,1 Milliarden Euro einbringen.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

Warten auf den Angriff

Wenn ich die Stimmung in der Ukraine in diesem Oktober mit einem Wort beschreiben sollte, dann wäre es „Erwartungshaltung“. Wir wissen, dass die russischen Raketen irgendwann kommen werden. Wir warten darauf, dass der Feind versucht, uns Strom und – im aus russischer Sicht besten Fall – auch die Wärmezufuhr abzuschneiden. Wir wissen, dass unsere Energieinfrastruktur anfälliger ist als im letzten Jahr und dass Russland vermutlich weniger Raketen zur Verfügung hat, so dass es sich keine Fehler leisten kann.

Im vergangenen Jahr fand der erste massive Raketenangriff auf die ukrainische Energieinfrastruktur am 10. Oktober statt. An diesem Abend riefen die ukrainischen Behörden die Bevölkerung auf, ihren Stromverbrauch zu minimieren. Eine Woche später, nach einem weiteren Angriff, kam es zu Stromausfällen, die Straßen wurden dunkel, und man konnte Cafés und Geschäfte am Geräusch der Dieselgeneratoren erkennen, die genutzt wurden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Aktuell versuchen wir, in diesem Winter besser vorbereitet zu sein. Mehrere meiner Freunde haben ihren Internetzugang optimiert, um sicherzustellen, dass die Verbindung bei Stromausfällen länger hält. NGOs versorgen verschiedene Gemeinden und Unternehmen mit Ladestationen, die mehrere Geräte einen Tag lang mit Strom versorgen können. Auch ich habe eine solche Station erhalten. Einige Menschen verbessern die Dämmung ihrer Häuser und Wohnungen, damit weniger Wärme verloren geht.

Schwieriger ist hingegen, die Stromerzeugung und die Übertragungssysteme zu schützen. Die meisten Stromleitungen sind nach den Schäden von vergangenem Winter wieder betriebsfähig, aber die Reparatur großer Erzeugungs- oder Verteilungsanlagen, die ebenfalls schwer betroffen waren, ist kostspielig und kompliziert.

Manchmal ist es sogar besser, ein neues Umspannwerk oder ein neues Wärmekraftwerk zu bauen, anstatt das alte zu reparieren. Das dauert aber Jahre – und die haben wir offensichtlich nicht.

Wenn ich abends ins Bett gehe, denke ich oft: Vielleicht kommt heute Nacht der russische Raketenangriff? Er dürfte massiv ausfallen, um unser Luftabwehrsystem zu überwältigen. Vermutlich werden auch zahlreiche Drohnen eingesetzt. Scheinbar sind die Angreifer aber (noch) nicht so weit.

Doch wenn es dann soweit ist, wird es sich für uns nicht katastrophal anfühlen. Wir haben inzwischen Erfahrung. Unsere Hinterhöfe sind immer noch mit großen und kleinen Generatoren übersät. Wenn wir diesen Winter Pech haben, wird auf den Straßen eben erneut ihr Brummen zu hören sein.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

„Eisbär“ zerstört mehrere Unterwasserkabel

In den frühen Morgenstunden des 8. Oktober fiel plötzlich der Druck in der Gaspipeline Balticconnector zwischen Estland und Finnland ab.

An diesem Wochenende tobte ein heftiger Sturm. Als die Behörden einige Tage später schließlich den Meeresboden untersuchen konnten, entdeckten sie, dass offensichtlich etwas über den Grund geschleift wurde. Man fand außerdem das Leck in der zerfetzten Pipeline und zu guter Letzt einen abgebrochenen Schiffsanker.

Auch ein Datenkabel, das dutzende Seemeilen weiter östlich verläuft, wurde in zwei Teile gerissen. Eine weitere Leitung, die Estland und Schweden verbindet, war ebenfalls defekt. An beiden Orten wurden ähnliche Spuren wie in der Nähe der Pipeline gefunden.

Der „Hauptverdächtige“ bei diesen Vorfällen ist das chinesische Frachtschiff Newnew Polar Bear, das die jeweiligen Orte zum Zeitpunkt der Schäden passierte. Ein Foto, das einige Tage später aufgenommen wurde, zeigt, dass der Newnew Polar Bear ein Anker fehlte und ihre Container stark zur Seite geneigt waren.

Die Besatzung des Schiffes hat sich bisher geweigert, auf die Anfragen der estnischen Ermittler zu reagieren. Es ist noch unklar, ob die Schäden vorsätzlich oder versehentlich verursacht wurden, aber der Vorfall zeigt in jedem Fall, wie leicht es ist, wichtige unterseeische Infrastruktur zu sabotieren oder anzugreifen.

Die Pipeline Balticconnector wird nun bis mindestens April kommenden Jahres außer Betrieb sein, doch die Energieversorgung der beiden Länder ist sicher. Einen weiteren Effekt hat der Vorfall allerdings: Die NATO hat ihre Patrouillen und die Überwachung des Ostseeraums verstärkt, um weitere derartige Vorkommnisse zu verhindern.

Holger Roonemaa ist Leiter des Investigativ-Teams bei Delfi aus Tallinn.

„Frankreichs AKW-System ist wieder ein Aktivposten für die Energieversorgung“

In Frankreichs alternden Atomkraftwerken mussten im vergangenen Winter mehrere Reaktoren zur Wartung abgeschaltet werden. Dadurch war das Land zum ersten Mal seit 1980 gezwungen, Strom zu importieren. In diesem Jahr werden aber weniger Turbulenzen erwartet und Frankreich wird wieder zu einem wichtigen Stromexporteur werden, erklärt Nicolas Goldberg, Energieexperte bei Colombus Consulting und für den Think-Tank Terra Nova.

Sind die französischen AKW besser auf den diesjährigen Winter vorbereitet als es letztes Jahr der Fall war? 
Ja, die Situation ist zweifelsohne viel besser als im vergangenen Jahr. Die Verfügbarkeit von Atomstrom war im Oktober vergleichbar mit den Werten von 2019 [also der höchste Stand seit vier Jahren]. Nicht alle Probleme bei der Wartung der Reaktoren sind gelöst, aber es wurden viele Fortschritte erzielt. Die Befürchtungen für diesen Winter sind deswegen sehr moderat, zumal es zumindest noch letzte Spuren des Energiesparplans vom Winter 2022/23 gibt.

Wird sich diese Situation in niedrigeren Preisen für die Verbraucher niederschlagen? 
Die Marktpreise werden durch die Erwartung des Preises in der Zukunft und durch das Vertrauen in die Produktion bestimmt. Im September lagen die französischen Marktpreise unter den deutschen, was fast nie vorkommt. Dies zeigt, dass das Vertrauen zurück ist. Das ist nicht nur eine gute Nachricht für Frankreich, sondern für ganz Europa. Frankreich exportiert wieder Strom; und wir sind sogar nahe an der maximalen Exportkapazität. Das französische AKW-System ist somit wieder zu einem Aktivposten für den europäischen Energiemarkt geworden.

Könnte der Konflikt im Nahen Osten indes zu höheren Energiepreisen in Europa führen? 
Die Gasmärkte sind sehr angespannt. Nach den Anschlägen der Hamas sind die Gaspreise tatsächlich leicht gestiegen, aber mittelfristig sollte die Situation dort keine größeren Auswirkungen für Europas Gasversorgung haben. Denn: Israelisches Gas wird ohnehin kaum nach Europa exportiert.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.


Danke, dass Sie die 50. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Wir hoffen, der Newsletter hat Ihnen einige neue Einsichten gebracht. Wir freuen uns immer über Ihre Kritik und Anregungen.

Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an: info@europeanfocus.eu

Bis nächste Woche! 

Teresa Roelcke

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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