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Bundeskanzler Olaf Scholz und die SPD sehen Deutschland als europäische Führungsmacht, tun aber wenig dafür.

© Imago/Florian Gaertner/photothek.de

Deutschland will Führungsmacht sein?: Die verzerrte Selbstwahrnehmung der Ampel ist eklatant

Die Ampel hat weder eine Strategie noch die kommunikativen Fähigkeiten für eine Führungsrolle. Mit Selbstlob allein wird das nichts.

Ein Gastbeitrag von Stefanie Babst

„Warum sollte sich jemand von Dir führen lassen?“ Als ich diese Frage zum ersten Mal hörte, war ich elektrisiert. Ich saß in einem Seminar an der London Business School und hörte den beiden britischen Leadership-Gurus, Rob Goffee and Gareth Jones, zu. Es ging um das, was beide als einen authentischen und inspirierenden Führungsstil bezeichnen.

Dazu gehört nicht nur die Bereitschaft zum vorbildhaften Vorangehen. Ein Leader sollte ein echtes Interesse am Zuhören zeigen und seine Follower durch Empowerment und Motivation in ihrem eigenen Handeln bestärken.

Inspirierende Führer zeigen emotionale Betroffenheit; und sie sind auf die Lösung eines Problems und nicht auf dessen Beschreibung fokussiert.

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Ernüchternde Reaktion bei der Nato

Die Nato braucht einen Führungsstil. Wieder zurück im Brüsseler Nato-Hauptquartier hatte ich zwanzig Exemplare des Bestsellers von Goffee und Jones im Gepäck („Why Should Anyone be Led by You?“, Harvard Business Review Press, 2015), die ich an meine Kollegen verteilte. Wir alle waren für große, multinationale Teams verantwortlich.

Was, so dachte ich, könnte wichtiger sein, als sich innerhalb der Nato um einen inspirierenden Führungsstil zu bemühen? Die Reaktion war jedoch ernüchternd.

Meine Kollegen bedankten sich artig für das Geschenk, ließen es aber sogleich unter dem bedeutungsschwangeren Hinweis, sie seien momentan wirklich zu busy zum Lesen, in die Tiefen ihrer Schreibtische verschwinden.

Im Nato-Hauptquartier gibt es nach wie vor keine strategische Führung.
Im Nato-Hauptquartier gibt es nach wie vor keine strategische Führung.

© dpa/Panama Pictures/Christoph Hardt

Diese Einstellung hat sich auch heute nicht geändert. Das Nato-Hauptquartier ist immer noch von der ‚busyness‘-Kultur geprägt; inspirierendes und strategisch ausgerichtetes Leadership ist dort ein Fremdwort geblieben.

Gerade in den letzten zwölf Monaten ist mir das kluge Buch von Goffee und Jones vermehrt in den Sinn gekommen. Schon in „Normalzeiten“ ist ihre Frage „Warum sollte sich jemand von Dir führen lassen?“ provozierend.

Sie fordert dazu auf, den eigenen Führungsstil selbstkritisch zu hinterfragen: Sind meine Follower noch bei mir? Vertrauen Sie mir? Und kommuniziere ich meine Vision klar genug?

Führung ist aktuell besonders gefragt

In Kriegszeiten, und in denen befinden wir uns seit einem Jahr, sind Führungsqualitäten noch wichtiger. Politische Führer müssen nicht nur Ängste und Unsicherheiten in der Gesellschaft ansprechen, sie müssen das Problem beim Namen nennen und Mut machen können; und vor allem sollten sie einen konkreten Plan haben, wie sie das Land aus den unheilvollen Zeiten wieder herausführen wollen.

Schauen wir uns die Führungsqualitäten der Hauptprotagonisten im Ukraine-Krieg an. Über Putin, Xi Jinping, Raisi und andere autoritäre Führer auf dieser Welt muss man nicht viele Worte verlieren. Die Frage nach inspirierender Führung kommt in ihrer Gedankenwelt nicht vor.

Ohne Selenskyjs mutige und motivierende Führung würde der Widerstandsgeist in der von Moskaus brutalem Krieg gebeutelten Ukraine deutlich geringer sein. 

Stefanie Babst

Ihr Leadership-Verständnis reduziert sich auf die Manipulation und Einschüchterung der Menschen in ihren Ländern und, wenn nötig, die Verbreitung von Terror. Und komme, was wolle, sie halten sie an ihren strategischen Zielsetzungen eisern fest.

Für den ukrainischen Präsidenten hingegen ist glaubwürdiges Leadership eine nationale Überlebensfrage. Ohne Selenskyjs mutige und motivierende Führung würde der Widerstandsgeist in der von Moskaus brutalem Krieg gebeutelten Ukraine deutlich geringer sein.

Selenskyj zeigt, wie „leadership“ geht

Ob er vor Mitgliedern des US-Kongresses, ukrainischen Waisen oder Frontsoldaten in Bachmut steht: Selenskyj kommuniziert seine Botschaften stets klar, voller Empathie und setzt das Geschehen in einen größeren Zusammenhang. Er kann die Sinnhaftigkeit seiner politischen Entscheidungen einleuchtend vermitteln.

Als ukrainischer Präsident steht er nicht distanziert vor den Menschen, sondern er ist mitten unter ihnen. Seit elf Monaten führt er nun den Selbstverteidigungskampf der Ukraine gegen Russland an. Er könnte untertauchen, flüchten oder kapitulieren. Aber all das tut er nicht. Er bleibt dort, wo das Schicksal ihn hingestellt hat.

Und bei uns? Hier tritt am Silvesterabend ein Bundeskanzler mit brav gefalteten Händen und gestärktem weißen Hemd vor die Kamera und liest steif vom Teleprompter ab, was seine Berater ihm aufgeschrieben haben. Worte, die verhallen.

Ich kenne niemanden in meiner Umgebung, der sich am folgenden Tag erinnern konnte, was Bundeskanzler Scholz in seiner Neujahrsansprache gesagt hat.

Scholz’s Worte in seiner Neujahrsansprache sind wenig einprägsam.
Scholz’s Worte in seiner Neujahrsansprache sind wenig einprägsam.

© dpa / Michael Kappeler

Und dann ist da eine mittlerweile zurückgetretene Verteidigungsministerin, die sich darüber freut, im vergangenen Kriegsjahr so viele großartige Gespräche geführt zu haben.

Hätte Frau Lambrecht ihre kurze Rede in Kiew gehalten, würde ich sagen: Endlich mal ein klares solidarisches Zeichen mit den Menschen in der Ukraine.

Aber so ist und bleibt ihre „Böller-Ansprache“ eine kommunikative Katastrophe.

Christine Lambrecht am Frankfurter Tor
Christine Lambrecht am Frankfurter Tor

© Screenshot/Instagram

Und der Rest der Ampelregierung? Er verliert sich weiter in den (Un)Tiefen des üblichen parteitaktischen Geplänkels in Berlin. Können die Liberalen oder Grünen einen zusammenhängenden Plan präsentieren, wie sie den aggressiven Putinismus in Zukunft bezwingen wollen? Mir ist keiner bekannt.

Die SPD glaubt an Deutschlands Führungsrolle

Dabei will Deutschland führen. Will Europa anführen. Interessanterweise proklamieren das insbesondere sozialdemokratische Politiker.

Wie zum Beispiel der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil. Oder sein Parteikollege Nils Schmid, der meint, Deutschland könne es sich gar nicht aussuchen, ob es Führungsmacht in Europa sein will oder nicht. Deutschland, so Schmid, wäre es längst.

Frau Lambrecht sah es ähnlich. Deutschlands Größe, seine geografische Lage, seine Wirtschaftskraft, kurz, sein Gewicht, würden zu einer Führungsmacht machen, erklärte sie den verwunderten Zuhörern im Herbst. Und fügte tröstend hinzu: Wir bräuchten keine Angst vor dieser neuen Rolle zu haben. „Deutschland kann das.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verstärkt den sozialdemokratischen Führungs-Chor. Deutschland wäre zwar keine globale Führungsmacht, aber als eine der Großen in Europa würde von unserem Land Führung im Interesse Europas erwartet werden, referierte er im Oktober.

Ein Fehltritt nach dem anderen

Nun mal ernsthaft: Welche unserer transatlantischen Partner will die Regierung denn auf der Grundlage welcher Strategie und mit welchen Fähigkeiten anführen?

Mit nur sehr bedingt einsatzbereiten Streitkräften? Mit einem für alle Welt sichtbaren, höchst peinlichen Zaudern, wenn es militärische Hilfe für die Ukraine geht? Ohne auch nur den Hauch einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der fatalen deutschen Außenpolitik zu demonstrieren?

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Einer Politik, die jahrzehntelang auf die Einfuhr billiger russischer Rohstoffe setzte und die Augen vor einem aggressiven Russland schloss?

Und die selbst heute, elf Monate nach Kriegsbeginn, mit keinem Wort erkennen lässt, dass sie eine klare Vorstellung davon hat, wie europäische Sicherheit aussehen könnte, solange sich ein kleptokratisches, terrorverbreitendes Regime in Moskau hält? 

Realität ist, dass unsere Verbündeten nicht auf eine deutsche Führungsrolle erpicht sind.

Stefanie Babst

Realität ist, dass unsere Verbündeten nicht auf eine deutsche Führungsrolle erpicht sind. Weder in Warschau, London, Ankara, Budapest, Riga, Vilnius, Tallinn, geschweige denn in Paris, ist jemand an substanzlosen deutschen Führungsambitionen interessiert.

Scholz’ „Politik der kleinen Schritte“

Aber in der Selbstwahrnehmung der Sozialdemokraten scheinen diese Aspekte keine Rolle zu spielen. In ihrem jüngsten Positionspapier zur „Internationalen Politik in der Zeitenwende“ wird die Außenpolitik der Scholz-Regierung über den Klee gelobt.

Insbesondere die Sozialdemokraten glauben, Europa anführen zu können.
Insbesondere die Sozialdemokraten glauben, Europa anführen zu können.

© Action Press/Frederic Kern

Deutschland habe eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen und viele Millionen Euro an Hilfsgeldern zur Verfügung gestellt. Es würde die Ukraine bei ihrem Selbstverteidigungskampf mit Waffen unterstützen und solidarisch an der Seite deren stehen, die um Land und Leben kämpften.

Die regelmäßigen Gespräche von Scholz mit Präsident Putin seien richtig und wichtig; genauso wie es richtig sei, ‚nationale Alleingänge‘ abzulehnen. Und: Wenn Russland von seinem verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine abließe, könne eine ‚Politik der kleinen Schritte‘ erneut zu einer Annäherung mit Moskau führen.

Über Rüstungskontrolle müsse beispielsweise geredet werden. Die Begründung der Sozialdemokraten ist der des französischen Präsidenten sehr ähnlich: Russland würde auch in Zukunft ein Land mit erheblicher Fläche, Bevölkerung und militärischer Stärke auf dem europäischen Kontinent bleiben.

Scholz hofft durch Gespräche mit Putin auf eine Annäherung zwischen Deutschland und Moskau.
Scholz hofft durch Gespräche mit Putin auf eine Annäherung zwischen Deutschland und Moskau.

© Action Press/Tass/Russian Presidential Press and Information Office/Mikhail Klimentyev

Ansonsten wird in dem seitenlangen Entwurf viel über die Notwendigkeit geredet, die regelbasierte Ordnung aufrecht zu erhalten und demokratische Werte zu verteidigen. Daran ist nichts falsch, aber wie will Berlin das tun?

Vertrauenspartnerschaften, Inseln der Kooperation und nachhaltigkeitsbezogene Zusammenarbeit mit den Ländern des ‚Globalen Südens‘ ziehen sich als blumige Vokabeln durch den gesamten Text; nur beschreiben sie leider nichts Konkretes.

Okay, mit China will man weiter reden und, auch das ist eine altbekannte Absicht, künftig die Souveränität Europas stärken. Über die militärische Handlungsfähigkeit Deutschlands beziehungsweise die begrenzte Einsatzbereitschaft der deutschen Streitkräfte sagen die Sozialdemokraten nichts, außer, dass wir eine „robuste Abschreckungsfähigkeit“ bräuchten. Aha.

Generell übersieht das Positionspapier geflissentlich politische Probleme: Die türkische und ungarische Blockade Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands findet überhaupt keine Erwähnung. Aussagen zu den Entwicklungen im Iran, in Afghanistan und anderen schwierigen Baustellen im internationalen System sucht man vergeblich.

Auch Zukunftsszenarien, wie der Krieg in der Ukraine künftig weiter verlaufen könnte, wie er möglicherweise eskalieren oder zu einem vorübergehenden Stillstand führen könnte, und was all dies für die Sicherheit Europas bedeuten könnte, werden komplett ausgeblendet.

Viele Worthülsen, wenig Konkretes

Es sind nicht nur die vielen Worthülsen, die auch dieses Dokument völlig uninspiriert und schwammig wirken lässt; es sind vor allem die Aussagen zum Umgang mit Russland, die erklären, warum es einigen unserer Verbündeten vor einem deutschen Führungsanspruch gruselt.

Während Putin seine nächste große Mobilisierungswelle vorbereitet, mit der er die Ukraine weiter zerstören will, und spätestens in einigen Wochen erneut mit der Atombombe wedeln wird, reden Sozialdemokraten von möglicher Annäherung, Gesprächen über Rüstungskontrolle und vertrauensbildenden Maßnahmen mit der russischen Zivilgesellschaft.

Der Putinismus ist toxisch

Die Realität ist aber eine vollkommen andere. Solange der aggressive Putinismus Russland politisch dominiert, wird Europas Sicherheit direkt bedroht bleiben. Es ist nicht nur für die Ukrainer, sondern für uns alle toxisch.

Angesichts der ungeheuerlichen Dimension der Kriegsverbrechen und Verstöße gegen internationale Regeln, für die Präsident Putin und seine Entourage die Verantwortung tragen, ist eine Rückkehr zu einem irgendwie gearteten politischen Arrangement mit Moskau deshalb weder moralisch akzeptabel noch strategisch sinnvoll.

Das heutige Russland kann also nur systematisch in seinem Aktionsradius und seinen militärischen und hybriden Fähigkeiten begrenzt werden: in der Ukraine, in Europa, im globalen Süden, in Asien und in der Arktis.

Dies kann nur auf der Basis einer robusten und langfristig angelegten „Roll-Back-Putinismus“-Strategie gelingen. Zu dieser logischen Schlussfolgerung sind mittlerweile etliche unserer Verbündeten gekommen – nur Deutschland nicht.

Leading by example? Nein, in diese Kategorie gehört die Ampelregierung ganz sicher nicht. Unsere autoritären Gegner freut’s. Die deutsche Außenpolitik bleibt berechenbar. Sie fährt weiter mit gedämpftem Standlicht und nicht mit Fernlicht.

Wenn die Regierung in Berlin wirklich einen Führungsanspruch innerhalb Europas erheben will, sollte sie damit beginnen, sich in einer stillen Minute die Frage zu stellen: Why would anyone want to be led by us?

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