zum Hauptinhalt
Deutsches Klassenzimmer: Kinder lernen mit Papier und Stift. Immerhin kann diese Lehrerin an der Europaschule Guben ein interaktives Whiteboard nutzen.

© imago/Rainer Weisflog / Imago Images/Imago Stock

Digitalisierungsgipfel mit Scholz: Deutschland muss von den östlichen Nachbarn lernen

Von wegen Hochtechnologieland. Deutschland ist in IT-Fragen rückständig und wird Wohlstand verlieren, wenn es sich Esten, Tschechen, Polen und Ukrainer nicht zum Vorbild nimmt.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Wie wollen die Deutschen von ihrem hohen Ross herunterkommen? Das Land ist technisch und ökonomisch längst nicht mehr so gut, wie es einmal war. Es zehrt vom guten Ruf der Marke „Made in Germany“. Der wird aber nicht ewig halten, wenn Deutschland in der zentralen Zukunftsbranche hinterherhinkt: der Digitalisierung.

Am Donnerstag diskutierten die Ministerpräsidenten der Länder mit Kanzler Olaf Scholz, wie sich die Digitalisierung der Verwaltung beschleunigen lässt. Doch was ist da zu erhoffen angesichts des behäbigen Tempos der vergangenen Jahre?

Wer regelmäßig mit Besuchern oder deutschen Rückkehrern aus dem Ausland spricht, kennt die Verwunderung: Vieles funktioniert hier nicht digital, obwohl es anderswo selbstverständlich ist. Darunter sind Länder, auf die man in Deutschland gerne von oben herabblickt, weil viele sie immer noch für rückständig halten.

Digitale Verwaltung in Estland und Tschechien

Anmeldung bei Zuzug, neue Ausweise, Bescheinigungen aller Art: In Tschechien, Estland und weiteren östlichen EU-Staaten kann man vieles online erledigen, wofür in Deutschland immer noch ein persönlicher Behördengang nötig ist – samt dem Kampf um einen Termin.

WLAN im ICE: Die Deutsche Bahn und die Weltkonzerne, die dies technisch regeln sollen wie die Telekom und andere Mobilnetzbetreiber, kriegen es seit Jahren nicht hin, dass Reisende auf einer mehrstündigen Zugfahrt mit vergleichbarer Surfgeschwindigkeit wie im Homeoffice arbeiten können. Die Irritation bei ausländischen Mitreisenden ist unübersehbar. Darunter leidet ihr Eindruck vom angeblichen Hochleistungsstandort Deutschland.

Deutsche Schulen sind Digitalwüsten. Als eine sehr hohe Zahl ukrainischer Kriegsflüchtlinge kam, fürchteten manche eine Überforderung der hiesigen Schulen. Sie erfuhren dann aber teils erleichtert, teils pikiert: Ukrainische Kinder haben digitale Alternativen. Via Internet können sie am Unterricht im Kriegsland teilnehmen – und Deutsch in der Freizeit lernen.

Breitband in nur 66 von 650 Berliner Schulen

Eine ähnliche Erfahrung hatte Berlin während der Pandemie gemacht: Polen praktizierte Online-Unterricht, während man hier mit Hindernissen kämpfte: vom nicht vorhandenen oder langsamen Internet über fehlende Technik bei Schülern wie Lehrern und überlastete Lernplattformen bis zum Datenschutz.

Hat Deutschland in den rund drei Jahren aufgeholt? Von den 650 öffentlichen Schulen in Berlin sind heute nur 66 mit Breitbandanschlüssen versorgt. Volles WLAN haben sogar nur zehn.

Im Selbstbild modern, im Alltag nicht: Monitore auf der Internationalen Funkausstellung.
Im Selbstbild modern, im Alltag nicht: Monitore auf der Internationalen Funkausstellung.

© imago images / IPON

Warum tut sich Deutschland mit der Digitalisierung so schwer? Vor den Hindernissen, die oft als Erklärung vorgebracht werden, stehen andere EU-Staaten auch. Dazu gehören die Zwänge des Datenschutzes und Vorgaben für eine ordentliche Verwaltung samt Sicherheitsbelangen. Trotzdem sind viele Partner schneller, insbesondere die erfolgshungrigen Länder im Osten.

Viele Deutsche sind träge, weil es ihnen gut geht

Im Kern geht es um die kollektive Psyche: die Bereitschaft der Gesellschaft, sich zu verändern und von anderen zu lernen. Also um das Selbstbild, wer die Deutschen sind in der Welt. Bei all den Klagen, was hierzulande schlecht läuft, lieben sie den Status quo. Den meisten ist bewusst, dass es ihnen besser geht als den Menschen in den meisten anderen Nationen. Das Nationaleinkommen pro Kopf ist 4,3 Mal so groß wie im Durchschnitt der Erde und 1,8 Mal so groß wie im Durchschnitt der EU.

Nach aller Erfahrung sind Menschen eher bereit, sich zu verändern, wenn sie sich in einer Krise sehen, als wenn es ihnen relativ gut geht. Anstatt sich mit dem erschreckenden Rückstand in Sachen Digitalisierung auseinanderzusetzen sowie mit der Frage, was sich ändern muss, um Lebensstandard und Sozialsysteme zu erhalten, diskutiert man in Deutschland lieber über die Work-Life-Balance.

Die Deutschen könnten von anderen Gesellschaften lernen, die schneller und erfolgreicher sind bei der Digitalisierung. Sind sie dazu bereit? Als der Ukrainekrieg und die folgende Energiekrise auch die Bundesregierung zwang, über Gasumlage oder Gaspreisdeckel sowie über einen Tankrabatt nachzudenken, griff sie nicht auf die Erfahrungen der Franzosen, Italiener oder Spanier zurück, die solche Instrumente seit vielen Monaten praktizierten. Sie erfand spezielle deutsche, also kompliziertere Modelle, die Unmut auslösten, weil kaum einer sie verstand.

Deutsche Spitzenleistungen gibt es gewiss immer noch in vielen Sparten der Weltwirtschaft. Sie werden jedoch nicht von Dauer sein, wenn es dem Land der Tüftler, Ingenieure und Erfinder nicht gelingt, den technischen Vorsprung durch digitale Modernisierung auch in Zukunft zu erhalten. Muss hier erst der Wohlstand einbrechen, ehe Deutschland aus vorhersehbarem Schaden klug wird?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false