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Eine Frau gibt in einem Wahllokal Wahlzettel ab.

© picture alliance/dpa / Sebastian Gollnow

Exklusiv

„Verfassungsrechtlich unerträglich“: Kläger gegen komplette Wiederholung der Berlinwahl sehen sich bestätigt

Eine Gruppe von Politikern hatte gegen die Komplettwiederholung der Berlinwahl erfolglos geklagt. Die Entscheidung zur Bundestagswahl mache nun Reformbedarf offensichtlich.

Die Kläger gegen die Komplett-Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl in Berlin machen dem Landesverfassungsgerichtshof schwere Vorwürfe. Die Politiker, die Ende 2022 gegen die Entscheidung der Landesrichter vor Gericht gezogen waren, sehen sich in ihrer Kritik durch das neue Urteil der Karlsruher Richter zur Teil-Wiederholung der Bundestagswahl bestätigt.

„Das Bundesverfassungsgericht hat heute seine in ständiger Rechtsprechung entwickelten Wahlprüfungsgrundsätze bestätigt“, schreiben die Beschwerdeführer in einem gemeinsamen Statement, das dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt. „Wahlen sind nur dann und nur soweit zu wiederholen, wenn Wahlfehler tatsächlich festgestellt wurden und Mandatsrelevanz besitzen“, heißt darin. Das Schreiben ist von den Landtagsabgeordneten Sebastian Schlüsselburg (Linke), Jan Lehmann (SPD) und Stefan Förster (FDP) unterzeichnet.

Urteile sind laut der Kläger widersprüchlich

Sie sprechen von Widersprüchen zwischen den beiden Urteilen zur Abgeordnetenhaus- und zur Bundestagswahl: „Das Bundesverfassungsgericht ignoriert den angewandten Prüfungsmaßstab des Verfassungsgerichtshofes von Berlin“, heißt es weiter. „Dessen Annahme, es handele sich bei den festgestellten Wahlfehlern um die ,Spitze des Eisbergs’ und daher seien auch ordnungsgemäß abgegebene Stimmen und erteilte Mandate zu löschen, wurde explizit verworfen.“

Schwere Wahlfehler betrafen nach Darstellung der Politiker rund zehn Prozent der Wahllokale. In den anderen gab es keine Schlangen, keine falschen Stimmzettel, kaum zu lange Öffnungszeiten. Trotzdem ließ das Gericht die gesamte Abgeordnetenhauswahl und die Wahlen für die zwölf Bezirke wiederholen.

Sebastian Schlüsselburg war einer der Kläger gegen die Komplett-Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl. Er sieht sich bestätigt.
Sebastian Schlüsselburg war einer der Kläger gegen die Komplett-Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl. Er sieht sich bestätigt.

© bengross.de

Das Wahlprüfverfahren im Fall der gemeinsam abgehaltenen Wahl zum Deutschen Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 liefen getrennt voneinander. Das Verfahren zur Bundestagswahl lag in den Händen des Deutschen Bundestages und wurde nun vom Bundesverfassungsgericht überwiegend für rechtmäßig erklärt.

Das Verfahren zur Prüfung der Abgeordnetenhauswahl lag dagegen rein beim Berliner Verfassungsgerichtshof. Die Richter sprachen sich schon im November 2022 für eine Komplett-Wiederholung der Wahl aus. An der Entscheidung und ihrer Begründung hatte es auch von Verfassungsrechtlern Kritik gegeben.

Gericht hatte Komplett-Wiederholung mit „systemischen Mängeln“ begründet

In einer vorläufigen Stellungnahme hatte das Gericht eine Komplett-Wiederholung auch damit begründet, dass die festgestellten Fehler nur „die Spitze des Eisbergs“ seien. Später hatte das Gericht wegen „schwerer systemischer Mängel“ schon bei der Vorbereitung der Wahl sowie einer „Vielzahl schwerer Wahlfehler“ die gesamte Wahl annulliert. Es hatte im Urteil allerdings auch auf eine Mandatsrelevanz der Fehler für 88 der 176 Sitze verwiesen, also eine direkte Auswirkung der Fehler auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses.

Die Kläger gegen dieses Urteil kritisieren nun, dass mit dieser Argumentation auch die Löschung von „1,8 Millionen ordnungsgemäß abgegebenen Stimmen und korrekt vergebenen Mandaten“ einherging. „Das ist ein politisch und verfassungsrechtlich unerträglicher Zustand.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte ihre Klage gegen die Komplett-Wiederholung vor allem wegen fehlender Zuständigkeit zurückgewiesen.

Karlsruher Richter: Urteil widerspricht nicht dem Berliner Weg

Die Kläger von damals wollen das neue Urteil aus Karlsruhe nun genauer mit dem Urteil der Berliner Verfassungsrichter abgleichen. „Schon jetzt ist aber deutlich geworden, dass auf der Basis des Urteils des BVerfG die Wahlprüfungskriterien und das Wahlprüfungsverfahren in Berlin gesetzlich überarbeitet werden müssen“, schreiben sie in der Stellungnahme.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts kurz vor der Verkündung eines Urteils.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts kurz vor der Verkündung eines Urteils.

© picture alliance/dpa/Uli Deck

Explizit widersprochen haben die Karlsruher Richter den Berliner Verfassungsrichtern nicht. Die Vorsitzende Richterin Doris König sagte zur Urteilsverkündung: „Unserem Urteil steht nicht entgegen, dass der Verfassungsgerichtshof von Berlin eine komplette Wiederholung der Wahl angeordnet hat.“ Zwar sei dasselbe Wahlgeschehen betroffen, aber unterschiedliche Parlamente, sagte König. Sie verwies auf die Annahme der Landesverfassungsrichter, dass 88 von 176 Sätzen bei der Landtagswahl von Fehlern betroffen gewesen seien.

Die Karlsruher Richter machten allerdings auch einen Grundsatz bei der Wahlprüfung klar: „Ein Eingriff darf nur so weit gehen, wie es der festgestellte Wahlfehler erfordert“, sagte König. „Es ist derjenige Weg zu wählen, der dem Interesse am Bestand der gewählten Volksvertretung am stärksten Rechnung trägt.“ Ob dieser Grundsatz zur Entscheidung der Berliner Richter passt, wurde damals bezweifelt: und zwar von zwei Berliner Verfassungsrichtern, die gegen die Mehrheit ihrer Kollegen gestimmt hatten.

Generell gilt jedoch der Grundsatz: Die Teilnahme an einer Wahl muss so einfach wie möglich gemacht werden. Das haben die Richterinnen und Richter wieder betont. In Berlin war das, zumindest in den 455 von 2256 nun beanstandeten Wahlkreisen, nicht der Fall.

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