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Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hat sein Land auf die Karte Europas gerückt.

© dpa/Lehtikuva

Update

Wolodymyr Selenskyj und die Deutschen: Warum der ukrainische Präsident hierzulande so polarisiert

Bewunderung, Mitleid, Misstrauen, Angst: Kaum ein Mensch löst so widerstreitende Gefühle aus wie der Präsident der Ukraine und Karlspreisträger – und regt damit ein dringend benötigtes Umdenken an.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

| Update:

Empathie und Bewunderung, Ängste und Misstrauen: Kaum eine Person hat die Deutschen in den vergangenen 15 Monaten in solch ein Wechselbad widerstreitender Gefühle gestürzt wie der diesjährige Karlspreisträger: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Als Wladimir Putin Ende Februar 2022 den Krieg begann, zitterten und litten die Menschen hierzulande mit den Ukrainern. Sie bewunderten den Mut und die Todesverachtung ihres Staatsoberhaupts. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, beantwortete Selenskyj das Angebot der USA, ihn sicher außer Landes zu bringen.

Er stellt die Verantwortung für die Mitbürger über das eigene Leben. Auch das gehört zu den Gründen für die Auszeichnung mit dem Karlspreis an diesem Sonntag in Aachen. Polens Premier Mateusz Morawiecki sagte bei der Verleihung, Selenskyj sei das herausragende Vorbild für politische Führung im 21. Jahrhundert.

Von 5000 Stahlhelmen zu Kampfpanzern

Parallel beschließt die Bundesregierung die nächste große Waffenlieferung: Panzer, Luftabwehr, Artillerie, Munition. Welch ein Kontrast zu den 5000 Stahlhelmen, die Berlin bei Kriegsbeginn als „ganz deutliches Signal“ der Unterstützung sandte – womit es sich zum Gespött machte.

Passend zum Selenskyj-Besuch: Die Bundesregierung hat der Ukraine weitere Waffenlieferungen zugesagt.

© dpa/Wolfgang Kumm

Der Krieg hat die Deutschen verändert, hat einen Ministerwechsel von Christine Lambrecht zu Boris Pistorius erzwungen. Anfangs war vielen mulmig bei der Frage, welche praktischen Taten aus dem Mitgefühl folgen sollen. Zeitenwende-Rede des Kanzlers und Waffenlieferungen: Werden wir zur Kriegspartei, riskieren eine Ausweitung der Kämpfe in Nato-Gebiet oder eine Eskalation zum Atomkrieg? 

Ähnlich bange reagierten die Menschen auf die Sanktionen und den Ausstieg aus russischem Gas und Öl: Hält Deutschland das durch? Verlieren wir Jobs und Wohlstand? Müssen wir kalte Wohnungen und Stromrationierungen ertragen, als wären wir selbst im Krieg?

Entsetzen über Butscha und andere Kriegsverbrechen

Die Stimmungen wechselten mit dem Kriegsverlauf. Hoffnung: Die Ukrainer brachten Putins Offensive zum Stehen, verteidigten erfolgreich ihre Hauptstadt Kiew, drängten die Besatzer zurück.

Ein Mann legt Blumen auf ein Grab auf einem Friedhof während einer Gedenkfeier am Jahrestag des Kriegsbeginns.

© dpa/Emilio Morenatti

Entsetzen: In Butscha und anderen befreiten Orten hatten die russischen Soldaten Kriegsverbrechen begangen. Es waren keine Einzelfälle, das wurde immer klarer. Das Vorgehen gegen Zivilisten war Teil der russischen Kriegsführung wie zuvor in Tschetschenien oder Syrien.

Für Deutsche, die in Russland lange einen Partner sehen wollten und die all jene, die vor Putins finsteren Absichten warnten, als Kriegstreiber diffamierten, brach eine Welt zusammen. Putins Soldaten beschossen Atomkraftwerke in Tschernobyl und Saporischschja und riskierten einen GAU. Mehrfach drohte der Kreml mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Selenskyj rückt die Ukraine auf die Karte Europas

Selenskyj im olivgrünen Outfit und sein nerviger Botschafter Andrij Melnyk wurden zu täglichen Mahnern in Zeitungen, TV-Sendern und sozialen Netzwerken. Die Deutschen sahen ihn dort fast öfter als ihren Kanzler. Er rückte die Ukraine, die zuvor ein Niemandsland gewesen war, auf die politische Landkarte Europas.

In Aachen tat er das erneut, als er in der Dankesrede vom Englischen ins Ukrainische wechselte. Auch das sei eine europäische Sprache, betonte Selenskyj, diesmal in schwarzem Outfit mit einem blau-gelben Farbtupfer, den Farben der ukrainischen Flagge. Nur sei diese Sprache bisher bei der Verleihung des Karlspreises noch nie gesprochen worden.

Den Deutschen hat er in 15 Monaten Krieg einen neuen Blick auf ihre historische Verantwortung abgefordert. Die eingeübten Argumente bekamen eine unerwartete Kehrseite. Darf Deutschland angesichts des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 heute Waffen liefern, die Russen töten?

Neben diesen Einwand trat der Gegeneinwand: Darf Deutschland der Ukraine Waffenhilfe verweigern? Dort hatten die Gräuel des Weltkriegs getobt, dort standen die Vernichtungslager. Die Ukraine hatte einen weit größeren Teil der Bevölkerung verloren als Russland. Plötzlich war Russland kein Synonym mehr für die sowjetischen Opfer.

Erleichterung: Deutschland übersteht den Winter

Die Erfahrungen mit 15 Monaten Krieg haben die Ängste nicht vertrieben, aber gemildert. Deutschland hat den Winter überstanden, ohne Heizungs- oder Stromausfall. Die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine bleibt hoch.

Viele Deutsche verstehen instinktiv, dass Selenskyj und die Ukrainer mit ihrem Kampf und ihren Opfern auch deutsche Werte und Interessen verteidigen. Immun gegen Putins Drohungen, gegen sein Spiel mit den deutschen Ängsten hat es sie freilich nicht gemacht.

Der innerdeutsche Streit hält an: Tun wir genug? Oder zu viel? Hat die Waffenhilfe Sinn, weil sie es der Ukraine ermöglicht, Gebiete zurückzuerobern und ihre Verhandlungsposition zu verbessern? Oder führt sie nur zu mehr Opfern und erhöht zudem das Risiko einer Eskalation?

Selenskyj fordert entschlossene Unterstützung. „Frieden gibt es nur nach einem Sieg“ der Ukraine über Russland. Er hoffe, dass „diese ukrainische Friedensformel zur deutschen Friedensformel wird“. Kanzler Olaf Scholz habe mit der Ausrufung einer Zeitenwende Führung bewiesen. „Deutsche Panzer retten Leben ukrainischer Soldaten.“ Dieser Dank klingt zwiespältig in manchen deutschen Ohren.

Natürlich müssen die Deutschen und ihre Regierung das Für und Wider der Unterstützung, die Selenskyj in Berlin und Aachen verlangt, abwägen. Aber dabei eines in Köpfen und Herzen behalten: Angesichts der Rolle, die Deutsche in Mittel- und Osteuropa gespielt haben, wartet dort niemand auf ihren Rat, welche Verluste die Ukraine akzeptieren soll, um den Krieg zu beenden.

Die historische Erfahrung der östlichen Nachbarn lautet: Wenn Deutsche und Russen sich über ihre Köpfe hinweg verständigt haben, ging es meist schlecht für die Betroffenen aus. Selenskyj ist höflich genug, das in Aachen nicht offen auszusprechen. Die Deutschen müssen selbst zu ihrer Rolle finden: helfen, nicht predigen.

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