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Auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (links) ist erleichtert: Jens Stoltenberg bleibt ein zehntes Jahr Nato-Generalsekretär.

© dpa/Daniel Reinhardt

Stoltenberg bleibt Nato-Chef: Auf den großen Konsens folgt der große Knatsch

Die Kontinuität an der Nato-Spitze ist eine Erleichterung. Doch beim Gipfel in Vilnius droht Streit bei vielen Fragen: vom Umgang mit der Ukraine bis zur Blockade Schwedens durch die Türkei.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Uff, das ist nochmal gut gegangen. Eine Woche vor dem Nato-Gipfel in Vilnius ist die drängendste Personalie geklärt: Jens Stoltenberg bleibt ein zehntes Jahr in Folge Generalsekretär des Bündnisses.

Nun sind alle erleichtert, zu Recht. Erstens ist Stoltenberg allgemein erkannt, weil er gut führt. Ihm gelingt es, die Allianz politisch zusammenzuhalten, aber nicht auf Kosten von Wischiwaschi-Konsensen, die Meinungsverschiedenheiten überdecken. Er findet klare Worte zu Russland, zu knauserigen Verteidigungsausgaben und vielem mehr.

Zweitens ist die Kontinuität an der Spitze in Kriegszeiten eine zusätzliche Beruhigung. Direkt an der Ostgrenze des Bündnisses toben seit 16 Monaten blutige Kämpfe in der Ukraine. Ein Ende ist nicht absehbar. Mit der Verlegung der Wagner-Söldner nach Belarus droht ein zweiter Unruheherd an der Grenze zu den Nato-Partner Polen und Litauen. Dort steht auch die Bundeswehr.

Die Nato konnte sich nicht auf Nachfolger einigen

Doch die auf den ersten Blick so begrüßenswerte Einigung hat eine Kehrseite. Der demonstrative Konsens reicht nicht weit. Stoltenberg bleibt nicht nur, weil er so überzeugend ist. Sondern auch, weil die Europäer sich erneut nicht einigen konnten, wer ihm nachfolgen soll.

Kandidatinnen und Kandidaten gab es: die Estin Kaja Kallas als erste Frau und erste Persönlichkeit aus den östlichen Nato-Ländern. Den Briten Ben Wallace. Den Niederländer Mark Rutte. Oder, ganz gewagt, Ursula von der Leyen – wobei niemand erklären konnte, warum eine EU-Kommissionspräsidentin lieber Nato-Generalsekretärin werden solle. Egal, niemand von ihnen traf auf Konsens.

Der Gipfel in Vilnius wird nicht so harmonisch verlaufen wie die Stoltenberg-Verlängerung. Gewiss doch, eines darf man ironisch anmerken: Der Nato-Gipfel wird nicht scheitern. Er kann gar nicht scheitern in dem Sinne, dass die Beteiligten in lautem Streit auseinandergehen. Allein, dass der Gipfel stattfindet und ein Abschlussdokument mit diesem oder jenem Inhalt produziert, wird man als Erfolg anpreisen.

Doch die Konfliktthemen sind unübersehbar. Seit Monaten blockiert die Türkei den Beitritt Schwedens unter Vorwänden, die nichts mit der Nato zu tun haben. Selbst wenn es US-Präsident Joe Biden gelingen sollte, in den verbleibenden Tagen vor dem Gipfel eine Lösung mit dem wiedergewählten Kollegen Erdogan auszuhandeln: Dieser Akt verweigerter Solidarität wird noch lange nachwirken.

Das Bündnis ist sich auch nicht einig, was es der Ukraine anbieten möchte. Dass das Land Sicherheitsgarantien braucht, ist Konsens. Eine Einladung zum Beitritt ist es nicht – selbst wenn sie an die Bedingung geknüpft wäre, dass die Aufnahme bis Kriegsende aufgeschoben würde.

Teilbeitritt der Ukraine nach deutschen Muster 1955?

In diesen Tagen lancieren Experten einen auf den ersten Blick einfallsreichen Ausweg: den Teilbeitritt der bereits befriedeten Landesteile der Ukraine. Er geht, erstens, auf den Einwand ein, dass Länder, die sich im Krieg befinden, angeblich nicht aufgenommen werden können. Es gibt zwar keine solche prinzipielle Festlegung der Nato. Aber politisch steht das Argument im Raum und findet Resonanz.

Zweitens ist der Vorstoß charmant, weil er kein absoluter Präzedenzfall wäre, sondern an ein historisches Vorbild anknüpft: den deutschen Teilbeitritt 1955. Damals beanspruchte die Bundesregierung (West), für ganz Deutschland zu handeln, auch wenn sie de facto keine Macht über den sowjetisch besetzten Teil, die DDR, ausübte. So wie Kiew heute, de facto zwar den Großteil des ukrainischen Staatsgebiets kontrolliert, aber ein Viertel davon nicht.

1955 fand man Lösungen: Der deutsche Beitritt bedeutete nicht, dass die Nato militärisch tätig werden muss, um die besetzten deutschen Landesteile zu befreien. Vergleichbares ginge also auch im Fall der Ukraine. Sie könnte aufgenommen werden – und ihre freien Landesteile könnten schon jetzt unter Nato-Schutz kommen –, ohne dass die Allianz verpflichtet wäre, in den Krieg zur Befreiung der russisch kontrollierten Gebiete einzugreifen.

Freilich wäre dieser Weg nur gangbar, wenn alle Nato-Staaten dem zustimmen und alle Parlamente dieser Staaten das ratifizieren. Vom Gipfel in Vilnius ist das wohl kaum zu erwarten.

Was auch immer als kleinster gemeinsamer Nenner am Ende beschlossen wird: Auf das kraftvolle Zeichen der Einheit, das die frühzeitige Einigung auf den Nato-Generalsekretär setzt, wird wohl der Eindruck folgen, dass die Nato nicht ganz so einig ist, wie man es sich angesichts des Kriegs in Europa wünschen möchte.

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