zum Hauptinhalt
Nicht immer einer Meinung: US-Präsident Joe Biden und sein ukrainischer Kollege Wolodymyr Selenskyj.

© action press / CNP via ZUMA Press Wire / Zuma P

Enttäuschung bei Selenskyj: „Team Vorsicht“ aus Biden und Scholz setzt sich beim Nato-Gipfel durch

Deutschland und die USA wollen bloß keine radikale Veränderung des Kriegsgeschehens. Dabei braucht nicht nur die Ukraine, sondern auch der US-Präsident rasche Erfolge.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Den Eklat auf offener Bühne haben Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der Pressekonferenz vermieden. Seine Enttäuschung hatte Selenskyj vorher auf Twitter verbreitet.

Die Nato hält es mit dem Nena-Song: „Irgendwie fängt irgendwann irgendwo die Zukunft an.“ Einen konkreten Zeitplan, wann und wie die Ukraine beitritt, hat die Allianz verweigert. Dabei gibt Nena doch den Rat: „Liebe wird aus Mut gemacht.“ Das gilt auch für Frieden und Sicherheit.

An Mut hat es der Gipfel fehlen lassen. „Team Vorsicht“ gab die Richtung vor, mit US-Präsident Joe Biden und Kanzler Olaf Scholz an der Spitze. Ihre Devise: bloß keine radikale Veränderung des Kriegsgeschehens, um keine weitere Eskalation durch Wladimir Putin bei der Wahl der Mittel zu riskieren.

Selbstabschreckung hat einen blutigen Preis

Die Einen finden das weise. Andere kritisieren den Kurs als „Selbstabschreckung“ des Westens. Dafür bezahle die Ukraine einen blutigen Preis. Der Krieg verlängert sich, mehr Soldaten und Zivilisten werden sterben, wenn der Westen nicht die Waffen liefert und Sicherheitsgarantien gibt, die eine rasche Entscheidung herbeiführen würden – freilich verbunden mit dem Risiko der Eskalation.

Polen, Balten und neuerdings auch Frankreich hätten sich mehr Ehrgeiz bei der Waffenhilfe und der Einbindung der Ukraine in die Nato gewünscht. Auch dafür sprechen gute Argumente. Mit der Entscheidung, dass die Ukraine nicht beitreten kann, solange gekämpft wird, gibt der Westen Putin einen falschen Anreiz und einen mächtigen Hebel. Es liegt nun weiter in seinem Interesse, den Krieg nicht zu beenden.

Die Alternative nach dem Muster aus der Zeit der deutschen Teilung: Die Bundesrepublik (West) trat 1955 der Nato bei. Nur der Teil Deutschlands bekam den Nato-Schutz, den die Bundesregierung kontrollierte. Für die sowjetisch besetzte Zone blieb die Perspektive, dass sie eines Tages beitreten könne, wenn sich die Machtverhältnisse dort ändern. Zugleich wurde ausgeschlossen, dass die Nato für die Befreiung dieser Landesteile kämpfen müsse.

Kein Teilbeitritt nach deutschem Muster

Angewandt auf die Ukraine: Die Nato nimmt die Landesteile auf, die frei sind. Sie tritt nicht in den Krieg gegen Russland ein und hat auch keine Pflicht, die besetzten Gebiete zu verteidigen. Die treten bei, soweit die Ukraine sie befreien kann. Das hätte Putin den Anreiz genommen, er könne die Aufnahme durch Fortsetzung des Krieges verhindern.

In beiden Fragen, Ausmaß der Waffenhilfe und Kiews Verhältnis zur Nato, hat die Einigkeit im Bündnis enge Grenzen. Die Allianz kann aber nur im Konsens entscheiden, was sie tut. Ein Symbol, wie langsam sie Fortschritte erzielt, ist der Beitritt Schwedens. Er ist immer noch nicht besiegelt, aber das Pokerspiel um die Zustimmung der Türkei nähert sich dem Ende.

Angesichts dieser Uneinigkeit hat der Nato-Gipfel einige Fortschritte erzielt. Der Wille ist ungebrochen, die Ukraine dauerhaft so aufzurüsten, dass sie Russland in Schach halten kann. Dieses „Israel-Modell“ ist für den Westen auf lange Sicht viel teurer als Waffenlieferungen bis zu einem für die Ukraine vorteilhaften Kriegsende plus die Nato-Bündnisgarantie.

Deutschland und Frankreich kündigten in Vilnius neue Waffenlieferungen an. Auch die USA und Großbritannien legen bei Qualität und Quantität zu, von der umstrittenen Streumunition bis zu Distanzwaffen, mit denen die Ukraine den russischen Nachschub effektiver bekämpfen – und im Idealfall sogar den Rückzug aus Gebieten erzwingen kann. Denn ohne Munition und Verpflegung können die Russen ihre Stellungen nicht halten.

Alles in allem war der Gipfel kein Misserfolg. Die Allianz bleibt aber hinter ihren Möglichkeiten zurück. Das ist mit Blick auf den Faktor Zeit beunruhigend. Die Vorentscheidung im Ukrainekrieg fällt in diesem Jahr, denn in die US-Wahl 2024 möchte Biden nicht mit einer ungeklärten Kriegslage gehen.

Je mehr Territorium die Ukraine vor dem Winter erobert, desto besser wird ihre Verhandlungsposition sein. Obwohl Biden also rasche Erfolge Kiews bräuchte, hat er es nicht eilig, Selenskyj die dafür nötige Hilfe zu geben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false