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US-Präsident Joe Biden beim Nato-Gipfel in Vilnius

© AFP/PAUL ELLIS

Die Ukraine gehört in die Nato: US-Präsident Biden muss jetzt Mut beweisen

Die Europäer sind den USA in ihrem strategischen Engagement für eine tapfere, aber erschöpfte Ukraine voraus. Da sollte Joe Biden nachziehen.

Ein Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

Wenn die Vereinigten Staaten auf dem Nato-Gipfel in Vilnius in dieser Woche keine mutige Führung in Bezug auf die langfristige Sicherheit der Ukraine zeigen, werden die Historiker eines Tages vielleicht fragen: „Wer hat die Ukraine verloren?“ Die schockierende Antwort könnte lauten: Präsident Joe Biden.

Ich war vergangene Woche in Kiew. Es gibt in der Ukraine nach wie vor einen außergewöhnlichen Kampfgeist. Aber in fünf Monaten scheinen einige Bekannte um fünf Jahre gealtert zu sein. Alle sind erschöpft. Die Zahl der militärischen und zivilen Opfer nimmt weiter zu.

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Während sich die Regierung Biden bei jedem einzelnen Schritt um eine Eskalation sorgt, hat Wladimir Putin weiterhin eskaliert – insbesondere mit der Sprengung des Kachowka-Damms, der weite Teile des ukrainischen Landes zerstört hat. Zum Völkermord kommt jetzt ein Ökozid.

78
Prozent der Ukrainer haben Angehörige, die durch russische Angriffe verletzt oder getötet wurden

In einer aktuellen Umfrage geben 78 Prozent der Ukrainer an, dass sie enge Familienangehörige oder Freunde haben, die seit dem russischen Einmarsch im vergangenen Jahr verwundet oder getötet wurden.

Ukraine: Zwischen Traumata und Optimismus

Der Schmerz wird teilweise durch das Adrenalin des Widerstands überdeckt, aber nach dem Krieg wird das Land eine Vielzahl an Traumata aufarbeiten müssen.

Die ukrainische Gegenoffensive kommt nur langsam voran. Der große Vorstoß westlich ausgebildeter und ausgerüstetre Brigaden steht noch aus. Bei dieser Art der Kriegsführung liegt der Vorteil in der verschanzten Verteidigung. Entscheidend ist, dass Russland im Luftraum stärker ist. Daher die ständige ukrainische Forderung nach mehr Luftabwehrsystemen – und F-16-Kampfjets.

87
Prozent der Ukrainer sehen die Zukunft des Landes optimistisch

In einer Umfrage aus dem vergangenen Mai gaben 87 Prozent der Ukrainer an, sie sähen die Zukunft ihres Landes optimistisch, doch im privaten Bereich herrscht Ernüchterung. So soll sich inzwischen jedes fünfte ukrainische Kind im Ausland aufhalten.

Tymofiy Mylovanov, Präsident der Kyiv School of Economics, teilte unserer Gruppe vom European Council of Foreign Relations mit, dass die Zahl der Erwerbstätigen bei den derzeitigen Trends um ein Drittel sinken wird. Es ist eine gewaltige Herausforderung, die Arbeitsplätze, Wohnungen und Schulen zu schaffen, ohne die Millionen von Ukrainern nicht aus dem Ausland zurückkehren werden.

Wenn ich also sage: „Wer hat die Ukraine verloren?“, dann meine ich nicht, dass sie den Krieg verloren hat. Ich meine den Verlust des Friedens: ein erschöpftes, verwüstetes, traumatisiertes Land, das noch immer eines Teils seines Territoriums beraubt ist. Es ist ein Land in der Schwebe. Eben dies ist Putins brutales, rachsüchtiges Ziel: Wenn er die Ukraine nicht in das russische Imperium zurückzwingen kann, wird er versuchen, sie zu ruinieren.

Keine Sicherheit ohne USA und Nato

An dieser Stelle sind die Vereinigten Staaten gefragt. Die militärische Unterstützung der USA ist für die Ukraine unerlässlich, um den Krieg zu gewinnen. Langfristige Sicherheit ist nötig, damit sie den Frieden gewinnen kann. Ohne Sicherheit wird es weniger Investitionen geben, weniger Rückkehrer, keinen erfolgreichen Wiederaufbau. Und das bedeutet letztlich: Die Ukraine muss Nato-Mitglied werden.

Während die militärische und wirtschaftliche Hilfe der USA massiv und unverzichtbar war und bleibt, ist Europa den Amerikanern in seiner strategischen Haltung gegenüber dem umkämpften Land nun voraus. Die EU hat getan, was die Nato noch nicht getan hat: Sie hat sich unmissverständlich zur Mitgliedschaft der Ukraine bekannt.

Wie in anderen mittel- und osteuropäischen Staaten seit 1989 hat dies bereits eine transformative Wirkung auf die Politik des Landes. Denn jetzt haben alle ein großes gemeinsames Ziel: „Europa beizutreten“. Experten und Aktivisten wünschen sich von der EU sogar strengere Auflagen, um die Korruption zu bekämpfen, die Rechtsstaatlichkeit zu stärken und die Regierungsführung zu verbessern.

6
Millionen Erwerbstätige weniger wird es nach aktuellen Trends in der Ukraine geben

Das auf vier Jahre angelegte und mit 50 Milliarden Euro ausgestattete EU-Hilfspaket bildet den Rahmen für eine innenpolitische Agenda für Wiederaufbau und Reformen.

Die Europäer haben auch die Nase vorn, wenn es darum geht, vom Gipfel in Vilnius eine klare Aussage über die künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu fordern. Und das gilt nicht nur für die Mittel- und Osteuropäer.

Ein Kiewer Think-Tanker nannte es eine „magische Wandlung“ der französischen Position, dass Präsident Emmanuel Macron sich stark für einen Nato-Beitritt der Ukraine ausgesprochen hat. Deutschland ist deutlich zurückhaltender, aber das größte Problem Kiews liegt jetzt in Washington.

Kein Nato-Beitritt vor Kriegsende

Die Ukrainer sind realistisch. Sie wissen, dass sie der Nato nicht beitreten können, solange ein Krieg im Gange ist. Sie wollen eine, wie sie es nennen, „politische Einladung“, die erst dann umgesetzt würde, wenn die Bedingungen stimmen. Als Überbrückung bis zu diesem Zeitpunkt streben sie Sicherheitsverpflichtungen von führenden Nato-Mächten wie den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland an.

Diese werden manchmal als „Sicherheitsgarantien“ bezeichnet, doch genauer wäre die Beschreibung als „Sicherheitsbeistandsgarantien“ – eine Verpflichtung, der Ukraine weiterhin die nötigen militärischen Mittel zur Verfügung zu stellen, um den Aggressor abzuwehren.

Dies wäre in etwa das, was die USA für Israel tun, allerdings mit mehreren Partnern und mit einem klaren Weg zu einer möglichen Nato-Mitgliedschaft.

Präsident Biden war am Sonntag noch nicht so weit.  Er erklärte dem Sender CNN, dass die Ukraine nicht für eine Nato-Mitgliedschaft bereit sei und dass Sicherheitsvorkehrungen nach israelischem Vorbild möglich sein sollten, „falls es einen Waffenstillstand, falls es ein Friedensabkommen gibt“.

Nato-Beitritt im Austausch gegen Gebiete?

Er betonte das Wort „falls“. Man ahnt, dass die Nato-Mitgliedschaft als künftige Belohnung eingesetzt werden könnte, wenn die Ukraine den bestmöglichen Frieden aushandelt und dabei wahrscheinlich einen erheblichen Gebietsverlust in Kauf nimmt.

Sollte dies das Ergebnis des Gipfels von Vilnius sein, so wäre die Enttäuschung in der Ukraine groß. (Das moralisch fragwürdige Geschenk amerikanischer Streubomben ist kein Ersatz für langfristige Sicherheitsverpflichtungen und verwirrt die Debatte nur).

Man kann in Kiew bereits Anzeichen für eine wachsende Wut auf den Westen wahrnehmen. Ohne ein festes Versprechen auf künftige Sicherheit würde es selbst den Tapfersten in der Ukraine schwerfallen, ihr angeschlagenes, erschöpftes und traumatisiertes Land wieder aufzubauen.

Wenn der Westen der Ukraine jedoch die militärischen Mittel an die Hand gibt, um diesen Krieg zu gewinnen, und ihr gleichzeitig eine künftige Nato-Mitgliedschaft in Aussicht stellt, dann werden die Vereinigten Staaten am Ende ein Europa als Partner haben, das viel besser in der Lage ist, sich gegen ein geschwächtes Russland zu verteidigen.

Washington wäre dann in der Lage, mehr ihrer eigenen Ressourcen gegen die geostrategische Bedrohung durch China einzusetzen.

Die endgültige Entscheidung wird in diesen Tagen am Tisch der Staats- und Regierungschefs in Vilnius fallen. Es wird vor allem auf Joe Biden ankommen, jetzt das Richtige, das Mutige, das wirklich Strategische zu tun. Die Geschichte schaut zu.

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