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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #56: War is not over

Gedanken von der „echten Front“ +++ Zahl der Woche: 0,1 Prozent +++ Ukraine kann sich auf deutsche Unterstützung verlassen +++ Ungarn bleibt hart +++ Rückschläge sind keine Katastrophe

Von Michal Kokot

Hallo aus Warschau,

Der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine liegt bald schon zwei Jahre zurück. In Europa scheint man zunehmend zermürbt und ermüdet von einem Konflikt, dessen Ende immer noch nicht in Sicht ist. Haben wir vergessen, dass der Kampf der Ukrainer gegen Russland nicht nur für ihre eigene Freiheit geführt wird, sondern auch für unsere?

Diese Woche erfahren wir, wie westliche Länder wie Deutschland und Frankreich zwar Erhöhungen der Militärhilfe für die Ukraine ankündigen – aber diese nach wie vor nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein dürften.

Einige mittel- und osteuropäische Länder tragen indes noch weniger bei. Ungarn verweigert militärische Unterstützung gänzlich. In Budapest will man (innen-)politisches Kapital aus der eigenen nicht-interventionistischen Position schlagen.

Wieder einmal erweist sich die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik als schwach. Ohne die Vereinigten Staaten gäbe es keine Sicherheitsgarantie für unseren Kontinent. Dies zu ändern, läge sowohl in unserem Interesse als auch in dem der Ukraine.

Michał Kokot, dieswöchiger Chefredakteur

Gedanken von der „echten Front“

Was Pavlo Kazarin immer konnte: die richtigen Worte zum passenden Zeitpunkt finden. Der auf der Krim geborene und dort aufgewachsene Kazarin gab seinen Job als Radiomoderator auf der Halbinsel nach der russischen Annexion 2014 auf und zog nach Kiew. Innerhalb weniger Jahre wurde er dort zu einem der Top-Kolumnisten des Landes; berühmt für seinen nüchtern-bitteren Stil, der stets auf realen und alltäglichen Gegebenheiten beruht.

Ende 2021 veröffentlichte er eine preisgekrönte Essaysammlung Der Wilde Westen Osteuropas. Seine Geschichten handeln von der Erfahrung, im ukrainischen Süden aufzuwachsen und zu leben, von der fremden Besatzung, von Identität und vom allmählichen „Ukrainischwerden“ sowie dem Aufbau eines neuen Lebens nach der Flucht.

Am zweiten Tag der russischen Invasion 2022 trat Pavlo den ukrainischen Streitkräften bei. „Das war ebenso notwendig, wie in gewisser Weise auch aufgeschoben,“ erklärt er. „Ich habe das 2014 nicht getan und diese Zeit – die mir von meinen Landsleuten, die die Ukraine für mich verteidigt haben und dabei getötet wurden, geschenkt wurde – damit verbracht, eine Karriere [für mich] aufzubauen. In diesen Jahren habe ich viel über mich nachgedacht. Jetzt ist es an mir, etwas zurückzugeben.“

Mit dem Schreiben hörte er allerdings nicht auf. Als zahlreiche ukrainische Geschäftsleute und Künstler erklärten, sie würden nicht aktiv an der Front kämpfen, weil sie nun einmal die „wirtschaftliche“ oder die „kulturelle“ Front verteidigten, erwiderte Kazarin im vergangenen Juli schriftlich: „Es gibt keine andere Front, nur die echte.“

Jetzt, wo die ukrainische Sommeroffensive viele enttäuscht hat und die Entschlossenheit des Westens, Kiew zu unterstützen, ins Wanken zu geraten scheint, ist auch die allgemeine Stimmung in der Ukraine düster. Nach fast zwei Jahren schwerer Kämpfe sind die meisten Soldaten und Zivilisten erschöpft. Interne politische Auseinandersetzungen sind wieder zu beobachten. Kazarins trockene, realistische und gut informierte Kommentatoren-Perspektive ist gerade wieder höchstaktuell – und notwendig.

„Der kommende Winter könnte härter werden als der letzte,“ schrieb er kürzlich in einem Kommentar. „Dieses Mal geht es nicht mehr so sehr um Raketen und Strom. Vielmehr gehen wir mit weniger psychologischer Widerstandsfähigkeit und einer viel größeren kollektiven Müdigkeit in diese schwierige Jahreszeit. Es könnte dieses Jahr leichter sein, uns zu spalten. Das wäre das Schlimmste. Denn dann würden wir alle verlieren.“

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Zahl der Woche: 0,1 Prozent

Die französische Regierung hat lange Zeit den genauen Betrag ihrer Militärhilfe für die Ukraine geheim gehalten. Offiziell wollte man damit vermeiden, dass die russische Armee erfahren könnte, welche Art von Waffen Frankreich an die Ukraine liefert.

Im November wurde im Zuge eines parlamentarischen Untersuchungsberichts die genaue Zahl doch bekannt: Seit dem Beginn der russischen Invasion hat Frankreich der Ukraine 0,1 Prozent des nationalen BIPs in Form von Militärhilfe zur Verfügung gestellt. Das entspricht 3,2 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Estland wendet 1,2 Prozent seines BIP für Waffen für die Ukraine auf.

Der Transfer französischer Rüstungsgüter als solcher macht dabei 1,7 Milliarden Euro aus. Derweil entspricht diese Zahl nicht dem tatsächlichen Wert der gelieferten Waffen, sondern den Kosten für den Ersatz dieser Geräte durch modernere Ausrüstung.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

Ukraine kann sich auf deutsche Unterstützung verlassen

Der russische Krieg in der Ukraine ist nun schon bald zwei Jahre alt – und die Regierung des ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj aktuell in einer schwierigen Lage. Die Gegenoffensive hat sich als deutlich weniger erfolgreich erwiesen als erwartet; die Kritik aus dem eigenen Land wächst. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die internationale Unterstützung für die Ukraine schwindet.

Laut einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) ist die westliche Hilfe für die Ukraine auf den niedrigsten Stand seit Januar 2022 gefallen. Im letzten Quartal sagten Kiews Verbündete etwas mehr als zwei Milliarden Euro zu – ein Rückgang von fast 90 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das IfW weist darauf hin, die Ukraine sei jetzt zunehmend von einer kleinen Gruppe von „Kern-Geldgebern“ abhängig. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Länder: die USA und Deutschland.

Dass gerade Berlin inzwischen zu einem der treuesten Unterstützer Kiews gehört, scheint zunächst überraschend: Die öffentliche Aufmerksamkeit hat hierzulande stark nachgelassen, die Außenministerin sprach kürzlich von einer „fatalen“ Apathie.

Darüber hinaus stand Bundeskanzler Olaf Scholz international in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, Deutschland leiste nicht in ausreichendem Maße militärische Lieferungen. Doch die nackten Zahlen lügen nicht: Zwar haben auch andere große europäische Akteure ihr weiteres Engagement für die Verteidigung der Ukraine signalisiert, doch rein finanziell bleiben sie weit hinter dem zurück, was Berlin zu geben bereit ist.

Im November kündigte die Bundesregierung an, die Militärhilfe für die Ukraine im Jahr 2024 von vormals vier auf nun acht Milliarden Euro zu verdoppeln. Mit diesen zusätzlichen Ausgaben würde das ehemals „geizige“ NATO-Beitragszahlerland Deutschland das Ziel von mindestens zwei Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigungsausgaben überschreiten.

Doch nur wenige Tage später stürzte die Regierung in eine Haushaltskrise. Austeritätsfans machten schnell die Sozialausgaben als Problem aus und forderten Kürzungen. Ebenso wurde von einigen Seiten gegen ukrainische Geflüchtete gehetzt, die es nicht verdient hätten, vom deutschen Sozialsystem unterstützt zu werden.

In diesem angespannten politischen Klima wählte Scholz beim SPD-Parteitag am vergangenen Wochenende deutliche Worte. Seine Aussage, es werde „in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaates in Deutschland geben“, wurde mit viel Applaus bedacht. Und auch mit Blick auf die Außenpolitik betonte Scholz, die ausgegebenen Ziele würden weiterhin gelten.

Russlands Präsident Wladimir Putin solle „nicht damit rechnen, dass wir nachlassen“. Man werde „die Ukraine weiter bei ihrem Verteidigungskampf unterstützen”.

Alexander Kloß ist freier Journalist in Berlin. Er hat sich auf die Schnittstelle von Politik, Kultur und Wirtschaft spezialisiert.

Ungarn bleibt hart

„Die Ukraine ist bekanntermaßen eines der korruptesten Länder der Welt,“ betonte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán vergangene Woche in Paris, wo er sich im Vorfeld des EU-Gipfels mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu Gesprächen traf. Es sei „schlichtweg ein Witz“, dass dieses Land der EU beitreten solle, so Orbán weiter.

Macron versuchte seinerseits, den ungarischen Ministerpräsidenten umzustimmen, doch Orbán blieb hartnäckig und machte deutlich, Ungarn werde den Beitrittsantrag der Ukraine weiterhin ablehnen.

Mit dieser Haltung sendet Ungarns Regierungschef seinen Wählerinnen und Wählern einmal mehr die Botschaft „Hungary first“. Er argumentiert, ein schneller EU-Beitritt der Ukraine sei „schlecht für Ungarn“. Die Ukrainer würden unter anderem die europäische Landwirtschaft umgehend ruinieren, wenn sie in den gemeinsamen Markt aufgenommen werden, warnt er.

Ebenso betont Orbán, die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine müssten endlich in vollem Umfang garantiert werden. Die bisherigen Bemühungen der ukrainischen Führung seien in dieser Hinsicht nicht zufriedenstellend.

Boróka Parászka ist Journalistin und Redakteurin bei hvg.hu. Sie lebt im rumänischen Târgu Mureș.

Rückschläge sind keine Katastrophe

Kaum ein Militärexperte dürfte sich Illusionen gemacht haben, dass der Versuch der Ukraine, ihr Territorium per „Sommeroffensive“ zu befreien, ein Kinderspiel sein würde. Viele warnten vor der diesjährigen Offensive davor, die Fortschritte könnten begrenzt sein und der Konflikt sich in einen Abnutzungskrieg entwickeln. Ermutigt durch die erstaunlichen Erfolge der Ukraine im Jahr 2022 hofften viele dennoch auf einen erneuten großen Durchbruch.

Dieser ist nicht eingetreten. Im vergangenen Jahr, als die ukrainische Armee gegen ein überfordertes russisches Militär kämpfte, hatte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Dieses Jahr war schon lange im Voraus klar, in welche Richtung sich die Gegenoffensive, nämlich in Richtung Asowsches Meer, bewegen würde.

Außerdem wurden die Mittel, mit denen die Schläge durchgeführt werden sollten, im Rahmen des öffentlichen Feilschens zwischen den Verbündeten bekannt. International stritt man, wer welche Waffen zuerst wohin schicken würde. Moskau hatte somit reichlich Zeit, eine starke Verteidigungslinie vorzubereiten.

Das Hauptziel, Russlands Landbrücke zur Krim abzuschneiden, wurde nicht erreicht. Das ist ein Rückschlag, der viele ukrainische Kämpfer besorgt und auch so manchen in Europa entmutigt.

Doch wir sprechen hier nicht von einer Katastrophe: In jedem Krieg gibt es Rückschläge. Entschlossene Kämpfer nutzen diese Tiefpunkte, um umzudenken, sich neu zu gruppieren und zukünftig noch effektiver zu agieren.

Beim nächsten Mal wäre es allerdings ratsam, dass die Ukraine und ihre Verbündeten weniger mit ihren Panzern und Raketen prahlen und klüger vorgehen. Dann können sie eine neue Strategie für einen Durchbruch entwickeln, wenn sich die nächste Chance bietet.

In diesem Zusammenhang zweifle ich nicht an der Entschlossenheit der Ukraine. Ich persönlich frage mich nur, ob Europa ebenso entschlossen ist, seine Prinzipien zu verteidigen und sein Versprechen, „solange es nötig ist“, tatsächlich zu halten.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.


Danke, dass Sie die 56. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Wir hoffen, dieser Newsletter war interessant für Sie und Sie haben einige neue Einblicke in das Thema „Krieg in der Ukraine“ bekommen. Meiner Ansicht nach sehen wir als Europäer uns weiterhin einer Gefahr gegenüber. Wir sollten deshalb Solidarität zeigen, den Ukrainerinnen und Ukrainern Unterstützung bieten und ihnen einen Sieg und infolgedessen Frieden wünschen. Denn sie kämpfen auch für Frieden auf unserem Kontinent.

Das Team von European Focus geht nun in die Winterpause und meldet sich am 17. Januar 2024 mit der nächsten Ausgabe zurück.

Bis nächstes Jahr!

Michal Kokot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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