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Wie eine unüberwindliche Bergwand wirkt der Wunsch nach europäischer Autonomie in der Sicherheitspolitik. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und US-Präsident Joe Biden beim G7-Gipfel in Elmau 2022.

© dpa/Michael Kappeler

Regierungserklärung zur Zeitenwende: Olaf Scholz kann Europa nicht führen – und will es auch nicht

„Partner in Leadership“ an der Seite der USA? Drei Gründe, warum das Deutschland im Ukrainekrieg nicht gelingt – aber auch kein anderer Staat Europas einspringt.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Zwei Wort fehlten auffällig in der Regierungserklärung des Kanzlers zu einem Jahr Zeitenwende: Führung und Führungsmacht. Im Ukrainekrieg ist Deutschland kein „Partner in Leadership“ für die USA. Europa führen: Das ist leichter gesagt als getan. 33 Jahre ist es bald her, dass der seinerzeitige US-Präsident George Bush dem damaligen Kanzler Helmut Kohl anbot, in allen Fragen, die Europas Zukunft betreffen, sollten Deutschland und die USA „Partner in Leadership“ sein.

Am 31. Mai 1989 hielt Bush in Mainz eine Grundsatzrede. In Polen verhandelte die Gewerkschaft Solidarnosc mit den regierenden Kommunisten über den friedlichen Machtwechsel. Ungarn baute seine Grenzsicherung ab.

Für die USA war der Fall der Berliner Mauer nur noch eine Frage der Zeit. Und wenn ein vereintes, demokratisches Deutschland entstünde, würde es über kurz oder lang zum ökonomischen Schwergewicht in Europa werden. Und zur politischen Führungsmacht.

Scholz als Primus unter den Geführten

März 2023: Kanzler Olaf Scholz besucht Präsident Joe Biden im Weißen Haus. Er ist der wichtigste Verbündete der USA im kontinentalen Westeuropa. Ein Partner auf Augenhöhe bei der Führung Europas ist er aber nicht. Er ist ein Primus inter Pares unter den Geführten.

Im Ukrainekrieg wäre Europa ohne die USA führungslos. Die Bundesregierung ist nicht mal willens und in der Lage, eine Mini-Koalition europäischer Staaten bei Panzerlieferungen anzuführen, solange Biden ihr nicht politische Rückendeckung gibt.

Mit der Aufgabe, Europa in der Abwehr der russischen Aggression zusammenzuführen und anzuführen, wäre Berlin offensichtlich überfordert. Aber da ist auch keine andere europäische Mittelmacht, die diese Aufgabe übernehmen könnte. Weder Frankreich noch Großbritannien noch Italien noch Polen.

Der Befund: Ohne Führung der USA kann Europa einen Regionalkrieg auf dem eigenen Kontinent nicht beenden. Daran hat sich in den drei Jahrzehnten zwischen den Balkankriegen der 1990er Jahre und dem Ukrainekrieg wenig geändert.

Warum ist das so? Vor allem aus drei Gründen.

Erstens möchte Deutschland die ihm angetragene Führungsrolle nicht übernehmen. Große Teile der Gesellschaft scheuen die Verantwortung, die damit verbunden wäre. Also auch große Teile der politischen Klasse, die die Bürger wählen.

In den Jahren kurz nach der Einheit waren das Selbstvertrauen und die Verantwortungsbereitschaft noch groß. 1994 meinten 62 Prozent, dass Deutschland sich international stärker engagieren solle, 37 Prozent waren dagegen.

Inzwischen fallen die regelmäßigen Umfragen der Koerber-Stiftung umgekehrt aus. Mehr als die Hälfte und in manchen Jahren mehr als 60 Prozent sind dagegen, nur ein Drittel bis gut 40 Prozent sind dafür.

38
Prozent der Deutschen sind bereit, einen Nato-Partner zu verteidigen.

Besonders gering fallen Solidarität und Verantwortung der Deutschen bei der Verteidigung aus. Mehr als die Hälfte der Bürger ist nicht bereit, Nato-Verbündeten gegen einen Angriff beizustehen, ergeben regelmäßig Umfragen. Nur 38 Prozent sind willens. In keinem anderen Land der Allianz sind die Werte so niedrig.

Im aktuellen Fall des Ukrainekriegs kommt eine weitere nationale Sonderstellung hinzu. Deutsche haben mehr Angst vor Russland als die meisten ihrer Nachbarn. Und sind eher bereit, russische Forderungen zu erfüllen, auch wenn die im Widerspruch zur UN-Charta und dem Völkerrecht stehen.

Zweitens sind die östlichen Nachbarn und EU-Partner speziell im Ukrainekrieg nicht bereit, sich deutscher Führung anzuvertrauen. Mit ihrer Energie- und Russlandpolitik der vergangenen Jahre haben Bundesregierungen verschiedener Couleur Misstrauen erzeugt. Und es noch verstärkt, weil sie trotz Warnungen der EU-Partner an ihrem Kurs festhielten, der im Rückblick naiv war und für alle sichtbar gescheitert ist.

Dass Europa im Ukrainekrieg erneut von der amerikanischen Vormacht abhängt und eine eigene Führungsmacht fehlt, ist zwar schlecht für die Europäer, scheint aber weder Deutschland noch der EU noch den USA unangenehm zu sein.

Christoph von Marschall

Drittens steht keine andere europäische Mittelmacht bereit, um die vakante Führungsrolle zu übernehmen. Frankreich hat ein ähnliches Glaubwürdigkeitsdefizit. Auch Präsident Emmanuel Macron ist Wladimir Putin wiederholt weit entgegengekommen. Er agiert zudem nicht sehr tatkräftig in der Unterstützung der Ukraine. Ähnliches gilt für Italien, die drittgrößte Wirtschaft der EU.

Großbritannien hat zwar kein Glaubwürdigkeitsdefizit. Es hat, ähnlich wie die USA, Putins Angriff kommen sehen und die Ukraine militärisch für den Widerstand ausgerüstet und trainiert. Es ist Kiews zweitgrößter Waffenlieferant nach den USA. Aber wegen des Brexits hat London keine Führungsrolle mehr in EU-Europa. Und zudem alle Hände voll zu tun mit den Brexit-Folgen.

Polen wird bewundert für die Aufnahme von Millionen Kriegsflüchtlingen und die entschlossene Hilfe. Das hat Warschau geholfen, sich aus der weitgehenden Isolation in Europa zu befreien, in die sich die nationalpopulistische PiS-Regierung durch Defizite bei Rechtsstaat, Medienfreiheit und Demokratie manövriert hatte.

Aber diese relative Verbesserung reicht nicht aus, damit Polen als das mit Abstand größte EU-Land im Osten eine Führungsrolle reklamieren könnte. Allerdings hat Polen auch für die USA an Gewicht gewonnen. Das lässt sich daran ablesen, dass Präsident Biden sowohl 2022 als auch 2023 seine Rede über den Krieg an die Europäer in Warschau hielt.

Zuletzt: Der Umstand, dass Europa im Ukrainekrieg erneut von der amerikanischen Vormacht abhängt und eine eigene Führungsmacht fehlt, ist zwar schlecht für die Europäer, scheint aber weder Deutschland noch der EU noch den USA unangenehm zu sein. Von dem angeblichen Zerwürfnis und lautstarken Streit zwischen den Sicherheitsberatern von Biden und Scholz wegen des deutschen Zögerns bei den Panzerlieferungen war auf der Münchner Sicherheitskonferenz nichts zu spüren. Und ist auch vor Scholz‘ Besuch im Weißen Haus nichts zu bemerken.

Der Verzicht auf die Worte Führung und Führungsmacht in der Regierungserklärung war ein lobenswerter Moment der Ehrlichkeit. Amerika hat keinen echten Partner in Leadership in Europa. Aber alle kommen damit klar. Traurig, aber wahr.

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