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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Augenklappe bei der Generaldebatte des Bundestags.

© dpa/Kay Nietfeld

Augenklappe, Ohrenschützer, Richterroben: Die politischen Szenen dieses Jahres

Das Jahr begann mit einer missglückten Videobotschaft der Verteidigungsministerin, die dann bald keine Ministerin mehr war. Der Tagesspiegel war in entscheidenden Polit-Momenten 2023 dabei. Sind es auch Ihre?

Das Jahr 2023 war geprägt von Krisen, Krieg und Gerichtsurteilen. Alles begann mit einer schweren Silvesternacht und einem Video, alles endete mit einem „ziemlich, ziemlich guten Ergebnis“ einer wochenlangen Krise. Das Tagesspiegel-Hauptstadtbüro hat die politischen Szenen des Jahres gesammelt.

1. Januar 2023: Christine Lambrecht spricht mit zerzaustem Haar in die Kamera, hinter ihr schwirren Silvesterraketen durch die Luft. Die Videobotschaft ist der Anfang vom Ende der Karriere der SPD-Politikerin als Verteidigungsministerin. Für Empörung sorgt, dass Lambrecht sich darüber freut, wie viele interessante Begegnungen ihr der „Krieg mitten in Europa“ beschert hätte.

Christine Lambrecht (SPD), brachte sich Anfang des Jahres mit einem Silvester-Video um ihren Job als Verteidigungsministerin.
Christine Lambrecht (SPD), brachte sich Anfang des Jahres mit einem Silvester-Video um ihren Job als Verteidigungsministerin.

© dpa/Robert Michael

Am 16. Januar tritt die SPD-Politikerin zurück. Ihr Parteifreund Boris Pistorius übernimmt im Bendlerblock und arbeitet seither daran, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen.

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Im März zittert Deutschland vor dem „Heizhammer“

2. Februar: Man muss nur einmal einatmen: Plötzlich riecht es nach Deodorant in der U-Bahn, im Bus strömt Schweißgeruch durch die Nasenlöcher. Überhaupt: Nasen. Sie sind wieder da. In Berlin und Brandenburg fällt an diesem Tag deutschlandweit zuletzt die Maskenpflicht in Bus und Bahn.

Viele wollen weiter freiwillig Maske tragen. Doch schon wenige Wochen später blickt man zumeist wieder in freie Gesichter. Am Ende des Jahres scheint das Ende der Maskenpflicht wie eine Entscheidung aus einem anderen Leben.

21. März, 2.15 Uhr: Robert Habeck steht in einem Weimarer Tagungshotel vor einem eigentümlichen Vorhang. Der Bundeswirtschaftsminister lässt Dampf ab. Die Ampel leiste nicht genug für die Menschen im Land, schimpft Habeck. Dem Gefühlspolitiker sieht man den ehrlichen Zorn an. Der als Politikstar gestartete Grüne steht selbst heftig in der Kritik, seit der Entwurf seines noch unfertigen Heizungsgesetzes in der „Bild“-Zeitung öffentlich geworden war.

Deutschland zittert in diesen Tagen vor dem „Heizhammer“. Das Gesetz sei „bewusst geleakt worden, um dem Vertrauen in der Regierung zu schaden“, wütet Habeck. Doch es nutzt nichts. Die öffentliche Stimmung kann der große Kommunikator dieses Mal nicht drehen. Seine Beliebtheit stürzt in den Keller – und bleibt dort.

27. März, 14 Uhr: Verkehrsminister Volker Wissing, dicke Ohrschützer auf, schaut entschlossen aus dem Hubschrauberfenster. Schon 19 Stunden verhandelt der Koalitionsausschuss zu diesem Zeitpunkt über schnellere Planungen für Verkehrsprojekte und den Klimaschutz. Jetzt hebt neben dem Kanzleramt der Hubschrauber ab. An Bord sind Kanzler Olaf Scholz und mehrere Minister, auch Wissing. Sie müssen sofort zu den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen.

Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) mit Ohrenschützern auf dem Weg zu den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen im März, neben ihm Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).
Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) mit Ohrenschützern auf dem Weg zu den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen im März, neben ihm Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

© dpa/Kay Nietfeld

Nach der Stippvisite in den Niederlanden steht nach 30 Stunden Verhandlungen endlich ein Kompromiss. Er beruht auf der ursprünglichen Beschlussvorlage von Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt. Das hätte man so nach fünf Minuten beschließen können, heißt es hinterher von SPD und FDP. Ein erster Ausblick auf das, was in diesem Jahr noch an Streit folgt.

10. Mai 2023, mittags: Am Rednerpult im Bundestag steht der frühere Chef der Jungen Union, Tilman Kuban, und schimpft. „Dieser Staatssekretär Graichen, er versorgt nicht nur Familie und Freunde, er sorgt auch für einen finanziellen Schaden! Und das mit Vorsatz!“, ruft Kuban. Patrick Graichen, zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, hatte seinen Trauzeugen auf eine wichtige Position gehoben, ohne das Verhältnis öffentlich zu machen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte im Mai Redebedarf mit dem CDU-Abgeordneten Tilman Kuban.
Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte im Mai Redebedarf mit dem CDU-Abgeordneten Tilman Kuban.

© dpa/Kay Nietfeld

Nach der Rede hält es Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nicht auf der Regierungsbank. Er springt auf, läuft im Plenarsaal zu Kuban, diskutiert mit ihm, zeigt Emotionen.

Eine Woche später muss Habeck seinen engen Vertrauten entlassen. Dieser war auch für das Heizungsgesetz verantwortlich.

5. Juli, 21.41 Uhr: Eine E-Mail vom Bundesverfassungsgericht blinkt in den Post-Eingängen im Kanzleramt und anderen Ministerien auf. Zu später Stunde verschickt das Bundesverfassungsgericht eine Nachricht, der sperrige Betreff lautet: „Erfolgreicher Eilantrag gegen die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens zum Gebäudeenergiegesetz“.

Der Inhalt gleicht einer politischen Bombe. Die Richter urteilen, dass die Regierung dem Bundestag zu wenig Zeit zur Beratung des Heizungsgesetzes gegeben hatte, und stoppt es.

Mancher Abgeordneter hatte um diese Uhrzeit schon zwei, drei Bier intus. Es ist die Zeit der politischen Sommerfeste in der Hauptstadt. Auf dem Sommerfest der SPD versammeln sich führende Sozialdemokraten um Kanzler Scholz für eine erste Besprechung. Einen Plan B hat man nicht. Mit jedem Bier wird das Entsetzen über die Ohrfeige aus Karlsruhe größer – es werden in diesem Jahr weitere folgen.

Kanzler Olaf Scholz und Stephan Weil, Ministerpräsident Niedersachsens, stoßen beim Sommerfest der niedersächsischen Landesvertretung in Berlin an.
Kanzler Olaf Scholz und Stephan Weil, Ministerpräsident Niedersachsens, stoßen beim Sommerfest der niedersächsischen Landesvertretung in Berlin an.

© dpa/Annette Riedl

Im Spätsommer triumphiert Christian Lindner über Lisa Paus

28. August: Die Koalition will mit frischem Elan aus der politischen Sommerpause starten – und scheitert. Finanzminister Christian Lindner steht mit bestem Grinsen im Gesicht neben Familienministerin Lisa Paus und verkündet: Die Koalition habe die Denkpause genutzt, um bei seinem Gesetz, dem Wachstumschancengesetz, noch etwas Geld draufzupacken.

Bedröppelt steht die Grüne Paus daneben. Sie hatte Lindners Gesetz zuvor in einem kuriosen Alleingang im Kabinett blockiert, wollte so mehr Geld für ihr wichtigstes Projekt herausschlagen: die Kindergrundsicherung.

Triumph für den Finanzminister: Christian Lindner (FDP) und Lisa Paus (Grüne) bei der Bundespressekonferenz zur Einigung bei der Kindergrundsicherung.
Triumph für den Finanzminister: Christian Lindner (FDP) und Lisa Paus (Grüne) bei der Bundespressekonferenz zur Einigung bei der Kindergrundsicherung.

© Geisler-Fotopress/Bernd Elmenthaler

Abgesprochen war das nicht mal mit dem eigenen Vizekanzler, Robert Habeck. Paus hatte zwölf Milliarden für das Projekt gefordert statt nur zwei Milliarden. Am Ende wird sie nur einige Millionen Euro mehr bekommen. Auf der Pressekonferenz versucht, sie ihre totale Niederlage in einen Sieg umzudeuten. Das Grinsen von Christian Lindner kann sie nicht wegreden. Die Stimmung in der Koalition: frostig.

3. September: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder erklärt in einer Pressekonferenz, warum er Hubert Aiwanger trotz der Affäre um ein hetzerisches Flugblatt im Amt belässt: Dieser werde daraus Lehren ziehen.

Sein Wirtschaftsminister spaziert wenige Stunden später südöstlich von München in ein prall gefülltes Bierzelt ein. „Man wollte den Aiwanger ertränken“, ruft er. „Aber die Schmutzkampagne wird uns stärken!“

Das Ende der Geschichte: Aiwangers historischer Erfolg für die Freien Wähler bei der Landtagswahl. Zumindest für ihn und in Bayern zahlt sich kalkulierter Populismus aus. Wird der ihn 2025 auch in den Bundestag tragen?

Hubert Aiwanger (l, Freie Wähler), Wirtschaftsminister von Bayern, neben seinem Chef Markus Söder, bayerischer Ministerpräsident (CSU).
Hubert Aiwanger (l, Freie Wähler), Wirtschaftsminister von Bayern, neben seinem Chef Markus Söder, bayerischer Ministerpräsident (CSU).

© dpa/Karl-Josef Hildenbrand

4. September: Der Kanzler trägt Augenklappe. Über den Nachrichtendienst X lässt sein Team folgende Nachricht verbreiten: „Wer den Schaden hat … Bin gespannt auf die Memes. Danke für die guten Wünsche, sieht schlimmer aus, als es ist!“

Olaf Scholz war am Wochenende zuvor beim Joggen gestürzt. In den folgenden Tagen findet die Republik zu seltener Einheit: Das verwegen Wirkende der schwarzen Piraten-Augenbedeckung kommt offenbar an. Für die Werber der SPD ist das Ganze ein willkommenes Geschenk: Auf dem Bundesparteitag im Dezember wird der versehrte Kanzler als Plakat verkauft. Kosten: 5 Euro.

Sieht verwegen aus, macht aber auch nicht entscheidungsfreudiger: Im September trug der Kanzler Augenklappe.
Sieht verwegen aus, macht aber auch nicht entscheidungsfreudiger: Im September trug der Kanzler Augenklappe.

© dpa/Kay Nietfeld

4. Oktober, früher Nachmittag: AfD-Chef Tino Chrupalla ist in Ingolstadt auf dem Weg zur Bühne. Plötzlich, so beschreibt er es später, sei sein Arm hart geworden, und ihm schlecht. Chrupalla wird in ein Krankenhaus gebracht, eine Einstichstelle wird festgestellt. Von einer Injektion? Ein Anschlag?

Tagelang spekuliert die Republik über den Chrupalla-Vorfall. Ende des Jahres hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Laut „Zeit Online“ geht man vom Einstich mit einer Pinnadel aus. Für eine Injektion gebe es „keine konkreten Anhaltspunkte“.

Per Krankenwagen ging es für AfD-Chef Chrupalla im Oktober von einer Wahlkampfveranstaltung in Ingolstadt in eine Klinik.
Per Krankenwagen ging es für AfD-Chef Chrupalla im Oktober von einer Wahlkampfveranstaltung in Ingolstadt in eine Klinik.

© dpa/News5

1. November, früher Abend: Die Rede, auf die das Land gewartet hat, hält Robert Habeck in seinem Büro. Regelmäßig nimmt er Erklär-Videos auf, oft spontan. Dieses Mal hat er das ganze Wochenende mit seinem Team an der Rede gearbeitet. Fast zehn Minuten buchstabiert der Vizekanzler aus, was es bedeutet, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist.

Das Video geht viral, nach Monaten in der Krise gelingt Habeck für einen Tag das Comeback. Doch die Ampel-Realität holt ihn rasch wieder ein. Seinen geplanten Solidaritätsbesuch in Israel wenige Wochen später muss er absagen, wegen einer anderen Krise.

Im Herbst wird der Bundespräsident missverstanden

8. November: Einen Monat ist der schreckliche Terror-Angriff der Hamas auf Israel jetzt her. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht im Großen Saal im Schloss Bellevue zwischen Imamen, Rabbinern, Palästinensern, Israelis. Steinmeier verurteilt scharf den Antisemitismus, sagt aber auch: „Sie alle sollen Raum haben, um Ihren Schmerz und Ihre Verzweiflung über die zivilen Opfer in Gaza zu zeigen.“

In der Öffentlichkeit bleibt vor allem hängen, dass er Muslime im Land um Distanzierung von der Hamas bittet. Ihm wird das Aussprechen eines Generalverdachts unterstellt. In der Öffentlichkeit schwindet das Versöhnende in seiner Rede. Steinmeiers Worte werden zu einem weiteren Beleg einer überhitzten Debattenkultur.

15. November, 10 Uhr: Peter Müller trägt die rote Robe des Bundesverfassungsgerichts. Halb liegend fläzt sich der ehemalige Ministerpräsident des Saarlands in seinem Richterstuhl, die Arme liegen lässig auf den Lehnen. Um 10.04 Uhr verliest die Vorsitzende Richterin des zweiten Senats, Doris König, neben ihm das Urteil: Ein Großteil des Klima- und Transformationsfonds der Bundesregierung wird für nichtig erklärt.

Klatsche für die Bundesregierung: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit (von links nach rechts) Ulrich Maidowski, Doris König (Vorsitzende) und Peter Müller verkündet das Urteil in Sachen „Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021“.
Klatsche für die Bundesregierung: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit (von links nach rechts) Ulrich Maidowski, Doris König (Vorsitzende) und Peter Müller verkündet das Urteil in Sachen „Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021“.

© dpa/Uli Deck

60 Milliarden Euro sind mit diesen Worten weg. Der Richterspruch löst eine schwere Regierungskrise aus – und hat noch immer kaum abschätzbare Langzeitfolgen für die Staatsfinanzierung. Richter Müller muss die historische Dimension des Richterspruchs bewusst sein. Seine Körperhaltung, ein Ausdruck der erdrückenden Macht des Gerichtes.

13. Dezember, 20.15 Uhr: Am Abend ist Olaf Scholz zu Gast in der ARD-Sendung „Farbe bekennen“. Seine Regierung hat sich nach wochenlangem Ringen auf eine Lösung der Haushaltskrise verständigt. Der Kanzler spricht von einem „ziemlich, ziemlich guten Ergebnis“ und grinst, als sei nichts gewesen.

ARD-Moderator Oliver Köhr zieht nach dem Gespräch ein bitteres Fazit: „Der Vertrauensverlust riesig ist und das Leben für viele Menschen dürfte teurer werden“, sagt Köhr zum Ende der Sendung. Schon Tage später wird der Kompromiss, den Scholz mühsam ausgehandelt hat, von der eigenen Koalition zerredet. Dann ist, ein Glück, auch schon Weihnachten.

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