zum Hauptinhalt
Überflutete Gebiete sind nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms in Cherson im Süden der Ukraine zu sehen.

© dpa/Satellite image

Update

Staudamm-Sprengung in der Ukraine: USA rechnen mit „vielen Toten“ – Hunderttausende ohne Trinkwasser, Gefahr durch Minen und Seuchen

Die Folgen der Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson sind dramatisch. Bis zu 42.000 Menschen sollen gefährdet sein. Ein Überblick über die Lage.

| Update:

Einen Tag nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine kristallisiert sich das Ausmaß der Katastrophe langsam heraus. Die Vereinten Nationen (UN) erklärten, der Dammbruch werde schwerwiegende Folgen für Tausende von Menschen auf beiden Seiten der Front haben.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, Hunderttausende hätten keinen normalen Zugang zu Trinkwasser mehr. Das Gesundheitsministerium warnte auf Facebook vor einer Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen. Ukrainischen Angaben zufolge sind rund 42.000 Menschen auf beiden Uferseiten des Dnipro von Überschwemmungen bedroht. Insgesamt wurden bisher nach russischen und ukrainischen Angaben mehr als 2700 Menschen evakuiert.

Der Fluss trennt die ukrainischen und russischen Truppen. In der russisch kontrollierten Stadt Nowa Kachowka direkt an der geborstenen Staumauer wurden russischen Angaben zufolge mindestens sieben Menschen vermisst. Der Besatzungschef der Stadt, Wladimir Leontjew, sagte zudem, dass dort rund 100 Menschen von den Wassermassen eingeschlossen seien und gerettet werden müssten. Der Wasserstand dort beginne zu sinken. Neue Gefahren drohen in den Überschwemmungsgebieten durch Minen, die freigespült wurden und im Wasser schwimmen.

Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten.

Wolodymyr Selenskyj, ukrainischer Präsident

Britische Geheimdienste rechnen mit einer weiteren Verschärfung der Lage. „Die Struktur des Damms wird sich in den nächsten Tagen voraussichtlich weiter verschlechtern, was zu weiteren Überschwemmungen führen wird“, teilte das britische Verteidigungsministerium am Mittwoch mit.

Auch die ukrainischen Behörden im Gebiet Cherson erwarten weiter steigende Wasserstände. Bis Donnerstagvormittag werde das Wasser noch um einen Meter ansteigen, sagte der Sprecher der Chersoner Militärverwaltung, Olexander Tolokonnikow, am Mittwoch im ukrainischen Fernsehen. Zugleich sagte er, dass der Staudamm weiter breche, weshalb das Wasser noch steigen könne. In der Großstadt Cherson stieg das Wasser laut Behörden um mehr als fünf Meter, die ersten Etagen von Gebäuden sind überschwemmt. Die Evakuierung der Bewohner laufe, hieß es.

Kiew und Moskau machten sich gegenseitig für den Vorfall mit potenziell gravierenden Folgen verantwortlich. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia sprach am Dienstag bei einer kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats in New York von einem „Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus“. Die Sprengung sei „ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schlug am Mittwoch eine Untersuchungskommission vor. Erdogan habe dies am Mittwoch in separaten Telefonaten mit Putin und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj angesprochen, teilte das Präsidialamt in Ankara mit.

Eine solche Kommission könne mit Experten der beiden Kriegsparteien sowie mit Vertretern der Türkei und der UN besetzt sein und damit ein ähnliches Format haben wie das sogenannte Getreideabkommen, hieß es.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Der ukrainische Generalstab erklärte am Mittwochmorgen, Ziel der Russen sei es gewesen, den Vormarsch der ukrainischen Truppen in der Region zu verhindern. Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja sagte dagegen, dass der Vorfall auf „vorsätzliche Sabotage Kiews“ zurückzuführen und wie ein Kriegsverbrechen einzuordnen sei. Der Staudamm sei für ein „unvorstellbares Verbrechen“ benutzt worden.

„Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag bei einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Dort war er per Video zugeschaltet. „Russland hat eine ökologische Massenvernichtungswaffe gezündet.“ Einer seiner Berater, Andrij Jermak, hatte von einem „Ökozid“ gesprochen.

In seiner ersten öffentlichen Stellungnahme zum Bruch des Damms in der Südukraine sprach Putin von einer „barbarischen Tat“ Kiews. Dadurch sei „eine ökologische und humanitäre Katastrophe großen Ausmaßes“ verursacht worden, sagte Putin nach Angaben des Kreml in einem Telefonat mit Erdogan.

US-Regierung rechnet mit „vielen Todesfällen“

Etwa 42.000 Menschen sind ukrainischen Angaben von Überschwemmungen bedroht. Auch der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths erklärt vor dem Sicherheitsrat, dass der Dammbruch „schwerwiegende und weitreichende Folgen für Tausende von Menschen in der Südukraine auf beiden Seiten der Frontlinie haben wird, da sie ihre Häuser, Nahrungsmittel, sauberes Wasser und ihre Lebensgrundlage verlieren werden“. Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe werde erst in den kommenden Tagen sichtbar.

Bislang sind keine Todesfälle bekannt. US-Regierungssprecher John Kirby geht davon aus, dass die Überschwemmungen wahrscheinlich „viele Todesfälle“ mit sich bringen. Experten zufolge sollen die Fluten am Mittwoch ihren Höhepunkt erreichen.

Über den Onlinedienst Telegram teilte Selenskyj mit, die teilweise Zerstörung des Staudamms habe keine Auswirkungen auf die Gegenoffensive seines Landes zum Zurückdrängen der russischen Armee. „Die Explosion des Damms hat nicht die Fähigkeit der Ukraine beeinträchtigt, ihre eigenen Gebiete von der Besatzung zu befreien“, schrieb der ukrainische Staatschef. Selenskyj fügte hinzu, er habe mit den höchsten Militärs gesprochen. Diese hätten ihm versichert, dass die ukrainische Armee in höchstem Maße bereit für die Gegenoffensive sei.

Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben.

Olaf Scholz, Bundeskanzler (SPD)

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf Moskau vor, in dem seit mehr als 15 Monaten dauernden Angriffskrieg gegen das Nachbarland immer stärker zivile Ziele anzugreifen. „Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“, sagte der Kanzler am Dienstag bei einem WDR-„Europaforum“ in Berlin.

Der Angriff auf den Staudamm sei „einer, den wir lange befürchtet haben“, sagte Scholz in einer RTL-Sendung, die am Dienstagabend ausgestrahlt werden sollte. Die Attacke habe schlimme Konsequenzen für alle, die im Umfeld des Staudamms lebten. „Das zeigt schon, dass das eine neue Dimension ist.“

Nach Angaben der EU gefährdet die Zerstörung Hunderttausende Zivilisten. Betroffen seien etwa 80 Siedlungen, darunter auch die Gebietshauptstadt Cherson, teilten der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der für Krisenmanagement zuständige Kommissar Janez Lenarcic am Dienstag mit.

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt Russland vor, Tausende Zivilisten zu gefährden und schwere Umweltschäden in Kauf zu nehmen. „Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.“

1. Wer ist für die Sprengung verantwortlich?

Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite machen sich gegenseitig für den Vorfall verantwortlich. Das ukrainische Einsatzkommando Süd teilte mit, die russischen Besatzer hätten den Damm in der Stadt Nowa Kachowka selbst gesprengt.

Selenskyj erklärte, das Kachowka-Wasserkraftwerk sei von innen heraus gesprengt worden. In der Nacht um 2.50 Uhr hätten „russische Terroristen“ eine interne Sprengung des Wasserkraftwerks vorgenommen, erklärt der Präsident auf Telegram.

Der Präsidentenberater Mykhailo Podolyak machte die 205. Motorisierte Kosaken-Schützenbrigade für die Sprengung verantwortlich.

Ukrainischen Lokalmedien zufolge ereignete sich eine große Explosion gegen 2:30 Uhr in der Nacht lokaler Zeit, der Damm brach daraufhin innerhalb einer Stunde vollkommen auf. Selenskyj nennt 2:50 Uhr als Explosionszeitpunkt. Mehr als das ist zum möglichen Hergang allerdings nicht bekannt. Videos, die in den sozialen Netzen kursieren und den Einschlag eine Rakete zeigen, sind nicht aktuell.

Dieses von Maxar Technologies über AP zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt den zerstörten Kachowka-Staudamm.
Dieses von Maxar Technologies über AP zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt den zerstörten Kachowka-Staudamm.

© picture alliance/dpa/Maxar Technologies/AP

Der Kreml beschuldigte die Ukraine der Zerstörung des wichtigen Staudamms. Schuldzuweisungen aus Kiew und dem Westen wies Moskau zurück. „Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (...) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Beweise für die Anschuldigungen legte er nicht vor. Präsident Wladimir Putin werde über alle Entwicklungen informiert, sagte Peskow.

Zuvor hatte der von Russland installierte Verwaltungschef der südukrainischen Oblast Cherson, Wladimir Saldo, in einem auf Telegram verbreiteten Video die ukrainische Regierung verantwortlich gemacht. Diese wolle damit vom Scheitern ihrer Gegenoffensive im Osten ablenken.

Der von Russland installierte Bürgermeister von Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sagte im russischen Staatsfernsehen: „Dieses Verbrechen kann nicht abgetan werden. Das ist ein Terroranschlag, der sich gegen Zivilisten richtet, die Ukrainer haben es getan.“

Kachowka-Wasserkraftwerk, mögliche Überschwemmungsgebiete
Kachowka-Wasserkraftwerk, mögliche Überschwemmungsgebiete

© ISW, Cornucopia.se•Stand: 6. Juni 2023, 14 Uhr

Blickt man darauf, wer Interesse an einer Sprengung haben könnte, dann ist es aus militärischer Sicht eher Russland. Verhindert doch die Überflutung einen Angriff ukrainischer Truppen über den Fluss Dnipro zumindest für einige Wochen. Allerdings sind die Überflutungen auf russisch besetzter Seite weitaus schlimmer als auf ukrainischer. Auch die am Flussufer errichteten russischen Verteidigungsanlagen werden weggeschwemmt.

Außerdem könnte in den kommenden Wochen die Wasserversorgung auf der Krim gefährdet werden. Der Kanal versorgt die bereits 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser. Er wird aus dem Kachowka-Stausee gespeist und verläuft durch den Süden der Region Cherson, die der Halbinsel gegenüber liegt.

Überschwemmung in der Stadt Nowa Kachowka, die direkt neben dem Damm liegt.
Überschwemmung in der Stadt Nowa Kachowka, die direkt neben dem Damm liegt.

© action press/Коновалов Алексей

Britische Geheimdienste untersuchen nach Angaben von Premierminister Rishi Sunak die Gründe für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Er könne derzeit „nicht sagen, ob Vorsatz dahinter steckt“, sagte Sunak am späten Dienstagabend vor seiner Abreise zu einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Es sei „zu früh“, um ein „endgültiges Urteil“ zu dem Dammbruch abzugeben, sagte Sunak weiter. 

Sunak nannte die Zerstörung des Staudamms den „größten Angriff auf zivile Infrastruktur“ seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Sollte Moskau hierfür verantwortlich sein, wäre dies laut dem britischen Premier ein Beleg für „neue Tiefpunkte russischer Aggression“.

2. Was ist bisher über die Folgen bekannt?

Modellierungen eines Unglücks am Staudamm wurden von Experten schon im Herbst vergangenen Jahres vorgenommen. Damals ging der ukrainische Geheimdienst davon aus, dass Russland den Staudamm sprengen würde, um dem ukrainischen Militär einen Übergang ans linke Ufer des Flusses abzuschneiden.

Das Ergebnis damals: Nach dem wahrscheinlichen Szenario für die Überflutung der umliegenden Gebiete wird das Ufer des rechten Dnipro-Ufers achtmal weniger betroffen sein als das linke Ufer. Die Gesamtfläche, die möglicherweise überschwemmt werden könnte, beträgt 1126 Quadratkilometer; eine Fläche, die etwas größer ist als Berlin.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Der Damm und darin liegende Wasserkraftwerk war die einzige verbliebene feste Verbindung zwischen den Ufern des Flusses, nachdem eine große Brücke in der Stadt Cherson vom ukrainischen Militär im Zuge der Offensive vergangenes Jahr zerstört wurde.

Stand Mittwochnachmittag ist unter Bezug auf die ukrainischen und russischen Behörden zu den Folgen zu sagen:

  • Russischen Behördenangaben zufolge sind 42.000 Menschen in den besetzten Gebieten von Überschwemmungen bedroht. Die Menschen lebten in 14 Ortschaften im Süden der Oblast Cherson. Die russischen Behörden haben inzwischen den Notstand ausgerufen.
  • Das ukrainische Gesundheitsministerium warnte am Mittwoch auf Facebook vor einer Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen in der überfluteten Region Cherson. Durch das Hochwasser können in der südlichen Region Chemikalien und Krankheitserreger in Brunnen und Gewässer gelangen. Regionale Vorräte an Antibiotika aufgestockt werden, um mehr Menschen bei Darminfekten behandeln zu können.
  • Die ukrainische Behörde teilte außerdem mit, in den kommenden drei bis fünf Tagen werde der Wasserstand wieder sinken, was voraussichtlich zum Massen-Fischsterben führen werde. Der Verzehr von Fischen sei deshalb nun kategorisch verboten, um das Risiko von Botulismus – einer lebensbedrohlichen Nervenvergiftung – zu minimieren.
  • In Nowa Kachowka sind nach Behördenangaben bislang rund 300 Häuser evakuiert worden. Die gesamte Stadt wurde nach russischen Angaben von den Wassermassen überflutet. 
  • Der Staudamm bröckelt örtlichen Behörden zufolge weiter. Die Hälfte des Damms ist bereits zerstört. Das strömende Wasser sei nicht kontrollierbar, meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf die von Russland eingesetzte Verwaltung in der Stadt Nowa Kachowka.
  • Mehrere flussabwärts gelegene Inseln seien inzwischen völlig überflutet, meldete RIA unter Berufung auf örtliche Behörden.
  • Von der Zerstörung könnten der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge rund 80 Ortschaften betroffen sein. Das meldete Tass unter Berufung auf Notfalldienste.
  • Der Staudamm lässt sich Behördenangaben zufolge wahrscheinlich nicht reparieren. Das sagte der von Russland eingesetzte Verwaltungschef der besetzten Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontew, im russischen Staatsfernsehen.
  • Auf der rechten Seite des Flusses Dnipro, wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt, ist mit Evakuierungen begonnen worden. Mehrere Dörfer seien „vollständig oder teilweise“ überflutet, teilte der Leiter der ukrainischen Militärverwaltung von Cherson, Oleksandr Prokudin, in einem Onlinedienst mit. „Etwa 16.000 Menschen befinden sich in der kritischen Zone am rechten Ufer“, erklärte er.
  • Neue Gefahren drohten in Teilen der Oblast Cherson durch die Überflutung einiger russischer Minenfelder, wie der von Russland eingesetzte Gouverneur der besetzten Gebiete in Cherson, Wladimir Saldo, der Nachrichtenagentur Tass zufolge mitteilte. Frei gespülte Minen bergen eine große Gefahr, denn sie können von den Wassermassen unkontrolliert verbreitet werden und beim Aufprall auf Bäume oder Gebäude detonieren.
  • Die Präsidentin der Vereinigung von Umweltfachleuten PAEW, Liudmyla Tsyganokm, sprach gegenüber dem Tagesspiegel von einem Ökozid. Darunter versteht man die massenhafte Zerstörung von Flora oder Fauna, die Vergiftung der Atmosphäre oder der Wasserressourcen sowie andere Handlungen, die eine Umweltkatastrophe verursachen können. „Das ,Gesicht’ der Region wird sich verändern und ein neues Ökosystem entstehen“, sagte Tsyganokm.
  • Durch die Sprengung des Staudamms sind nach Angaben der ukrainischen Führung mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

„Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden gerade bestimmt“, erklärte der ukrainische Gouverneur Prokudin am Morgen. Videos im Netz zeigen, wie die Wassermassen in Richtung Süden strömen.

Das ukrainische Agrarministerium rechnet ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilte das Ministerium am Dienstagabend auf seiner Webseite mit.

„Darüber hinaus wird die von Menschen verursachte Katastrophe die Wasserversorgung von 31 Feldbewässerungssystemen in den Regionen Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja zum Erliegen bringen“, so das Ministerium.

„Die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka wird dazu führen, dass sich die Felder im Süden der Ukraine bereits im nächsten Jahr in Wüsten verwandeln könnten“, hieß es weiter. Auch die Trinkwasserversorgung in besiedelten Gebieten sei betroffen. Zudem erwartet das Agrarministerium nach eigenen Angaben negative Folgen für die Fischerei.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

3. Welche Gefahr besteht für das größte Kernkraftwerk Europas?

Durch den Einsturz des Staudammes besteht nach russischer Darstellung keine unmittelbare Gefahr für das Atomkraftwerk Saporischschja. Das AKW ist das größte Europas und steht seit Längerem unter russischer Kontrolle.

Anders stellt es die ukrainische Atombehörde Energoatom dar. Sie warnt vor dem rapiden Abfall des Wasserlevels im Kachowka-Reservoir, das oberhalb des Staudamms liegt, was den Betrieb und vor allem die Kühlung des Kraftwerks bedrohe. Noch sei der Kühltank mit 16,6 Metern Wasserhöhe aber gut gefüllt. Pro Stunde braucht das Kraftwerk laut ukrainischer Darstellung bis zu 100.000 Liter Wasser.

Überflutungen sind im Raum Cherson zu sehen.
Überflutungen sind im Raum Cherson zu sehen.

© action press/Коновалов Алексей

Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) warnte vor den Folgen für die Kühlung des AKW. In „ein paar Tagen“ könne der Pegel des Stausees so niedrig sein, dass das Wasser nicht mehr zum Kraftwerk gepumpt werden könnte, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi. Der teilweise zerstörte Staudamm liegt am Fluss Dnipro, der das Atomkraftwerk mit Kühlwasser versorgt.

Derzeit sinke der Wasserpegel im Stausee durch die Schäden am Damm um etwa fünf Zentimeter pro Stunde, sagte Grossi. Am frühen Dienstag habe der Pegel des Stausees bei etwa 16,4 Metern gelegen. Falle er unter 12,7 Meter, könne das Wasser nicht mehr abgepumpt werden, um die Kühlkreisläufe des Kraftwerks zu versorgen. Zuvor hatte die IAEA mitgeteilt, für die Sicherheit des Atomkraftwerkes Saporischschja bestehe keine direkte Gefahr.

Auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) sieht derzeit keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Betrieb des AKW. „Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms bei Nowa Kachowka im Süden der Ukraine droht keine unmittelbare Gefahr für das Kernkraftwerk Saporischschja“, teilte das BfS den Zeitungen der Funke Mediengruppe mit.

Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.
Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.

© dpa/Uncredited

Die komplette Zerstörung des Wasserkraftwerks im Damm stellt nach Einschätzung der ukrainischen Regierung keine direkte Bedrohung für die Stromversorgung des Landes dar. „Die Explosion hatte keine direkte Auswirkung auf die Lage des Energiesystems des Landes“, teilte das Energieministerium mit.

„Es bestehen keine Gefahren für die Stabilität der Stromversorgung“, hieß es in einer Erklärung. „Der produzierte Strom reicht aus, um den Bedarf der Verbraucher zu decken.“

4. Welche Auswirkungen hat die Sprengung auf die militärische Lage?

Der russische Besatzungschef im südukrainischen Gebiet Cherson, Wladimir Saldo, sieht nach der Zerstörung des Staudamms einen militärischen Vorteil für die eigene Armee, wie er am Mittwoch sagte. Zahlreiche Experten hatten am Dienstag den Zusammenhang der Staudamm-Sprengung mit der aktuellen militärischen Lage in der Ukraine betont. Der Hintergrund: Am Wochenende hatte die Ukraine erste größere Bodenangriffe auf russische Stellungen nahe Donezk im Donbass durchgeführt. Sie gelten als unmittelbare Vorläufer der großen Sommeroffensive der Ukrainer.

„Am Montag gab es untertags Gerüchte von ukrainischen Landungsversuchen südlich von Cherson“, erklärt der Kommandant der Garde des Österreichischen Bundesheeres Markus Reisner gegenüber dem Tagesspiegel. Dies könne die Sprengung des Staudammes aus russischer Sicht erklären. „Man versucht, die Dnipro-Mündung und den Raum südlich Cherson für militärische Operationen durch massive Überflutung unbrauchbar zu machen. Dazu nimmt man mit teuflischem Kalkül weiträumige Zerstörungen und Opfer in Kauf.“

Heftige Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen im unteren Teil des Flusses bestätigt auch der ukrainische Militärexperte Mykhailo Zhyrokhov gegenüber dem Tagesspiegel. „Die Überflutung nach der Sprengung des Damms behindert aber nicht nur die ukrainische Offensive, sondern auch die russische Verteidigung“, erklärt er. Die Russen müssten sich auf die zweite und dritte Linie der Verteidigung in dieser Gegend zurückziehen.

Auch der Militärexperte Nico Lange sieht Auswirkungen auf die Gegenoffensive der Ukrainer. „Durch den zerstörten Staudamm gewinnt Russland Zeit, nimmt der Ukraine einige Optionen für die Gegenoffensive, zumindest für Nebenstöße und kann mit Ressourcen aus dem Südwesten jetzt andere Frontabschnitte im Süden und Osten verstärken“, schreibt er auf Twitter.

Dieses von der Nachrichtenagentur AP am 25. Mai zur Verfügung gestellte Foto zeigt Häuser im Hochwasser im überschwemmten Gebiet des Kachowka-Stausees am Fluss Dnipro. Schon vor der Sprengung hatte der Wasserstand ein gefährliches Level erreicht.
Dieses von der Nachrichtenagentur AP am 25. Mai zur Verfügung gestellte Foto zeigt Häuser im Hochwasser im überschwemmten Gebiet des Kachowka-Stausees am Fluss Dnipro. Schon vor der Sprengung hatte der Wasserstand ein gefährliches Level erreicht.

© dpa/Evgeniy Maloletka

Der Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sieht Russland hinter der Sprengung des Staudamms in der Südukraine. „Die Russen wollen die ukrainische Gegenoffensive durcheinanderbringen, die an einigen Stellen zu wirken beginnt“, sagte Mölling den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Wenn es die Ukrainer gewesen wären, würde das zudem die Unterstützung durch den Westen gefährden. Das wäre kontraproduktiv.“

Für die ukrainische Offensive sei die Sprengung des Staudamms „ein Stolperstein, aber es ist weder ein ‚game-changer‘ noch eine Eskalation. Ich sehe keine strategischen Auswirkungen auf den Verlauf oder das Ergebnis des Krieges“, fügte Mölling hinzu. Durch die Überflutung müssten nun weniger russische Soldaten auf der Ostseite des Dnipro-Flusses präsent sein, wo Moskau einige Tausend Kräfte in festen Verteidigungsstellungen stationiert habe.

Hochwasser in Nowa Charkowa. Auch die russischen Verteidigungsstellungen sind betroffen.
Hochwasser in Nowa Charkowa. Auch die russischen Verteidigungsstellungen sind betroffen.

© action press

Auch der Berater von Selensky, Mykhailo Podolyak, brachte den Vorfall in Verbindung zur militärischen Lage. „Die Motivation ist offensichtlich. Russland will die Situation beruhigen und davon ablenken, dass es die Initiative in der Region Donezk verloren hat“, sagte er. Russland versuche auf diese Weise, die Gegenoffensive zu verlangsamen und psychologischen Druck auf die Partner der Ukraine auszuüben. „Nach dem Motto: Schaut, wir können den Einsatz in diesem Krieg erhöhen, indem wir in den besetzten Gebieten eskalieren.“

Saldo, der russische Besatzungschef in Cherson, sagte im russischen Staats-TV: „Aus militärischer Sicht hat sich die operativ-taktische Situation zugunsten der Streitkräfte der Russischen Föderation entwickelt. Sie können nichts machen“, so seine Sicht auf die ukrainischen Truppen, die eine Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete planen. Angesichts des um ein Vielfaches seiner eigentlichen Größe angeschwollenen Flusses Dnipro sagte Saldo: „Für unsere Streitkräfte hingegen öffnet sich jetzt ein Fenster: Wir werden sehen, wer und wie versuchen wird, die Wasseroberfläche zu überqueren.“

5. Welche Reaktionen gibt es bisher auf den Bruch des Staudamms?

Die Europäische Union (EU) erhob schwere Vorwürfe gegen Russland. Der Außenbeauftragte Borrell und der EU-Kommissar für Krisenmanagement, Lenarcic, verurteilten den Angriff aufs Schärfste. Er stelle eine „neue Dimension russischer Gräueltaten“ und möglicherweise ein Kriegsverbrechen dar, erklärten die EU-Vertreter in Brüssel.

Bestürzt zeigte sich auch EU-Ratspräsident Charles Michel. „Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm“, schrieb er auf Twitter. „Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen – und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen.“ Er werde das Thema beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni aufbringen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen.

Menschen besteigen einen Evakuierungszug an einem Bahnhof.
Menschen besteigen einen Evakuierungszug an einem Bahnhof.

© dpa/Nina Lyashonok

Der britische Außenminister James Cleverly macht Russlands Invasion für die Zerstörung des Kachowka-Staudammes verantwortlich und fordert den sofortigen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine. „Ich habe Berichte über die Explosion am Damm und die Gefahr einer Überschwemmung gehört“, sagt Cleverly, der sich derzeit in der Ukraine aufhält, der Nachrichtenagentur Reuters.

„Es ist noch zu früh, um irgendeine aussagekräftige Bewertung der Einzelheiten vorzunehmen. Aber man sollte nicht vergessen, dass der einzige Grund, warum dies überhaupt ein Problem darstellt, Russlands unprovozierte umfassende Invasion der Ukraine ist“, sagt der Minister. „Wir werden die Entwicklung der Lage weiterhin beurteilen, aber das Beste, was Russland jetzt tun kann, ist, seine Truppen sofort abzuziehen.“

Auch Außenministerin Annalena Baerbock beschuldigte Russland. „Für diese menschengemachte Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine“, sagte die Grünen-Politikerin am Dienstag bei ihrer Lateinamerika-Reise im brasilianischen Sao Paulo. „Mit dem Kachowka-Damm wird ein ziviler Staudamm in Nähe eines Kernkraftwerks als Kriegswaffe missbraucht und das Leben der Menschen in der Umgebung in höchste Gefahr gebracht.“

Auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, verurteilte die Zerstörung des Staudamms scharf. „Dieser Angriff Russlands auf den Kachowka-Stausee ist ein weiteres unvorstellbar grauenhaftes Kriegsverbrechen. Es zeigt einmal mehr, zu welch brutalem Vorgehen Putin bereit ist“, teilte die FDP-Politikerin mit. „Es beweist auch: Dieses Regime will niemals verhandeln. Mit Putins Russland wird es keinen Frieden geben.“

Der Militärexperte Carlo Masala wertete die absichtliche Zerstörung des Staudamms im Interview mit Welt-TV als Kriegsverbrechen. „Wenn ein Staudamm gesprengt wird, dann ist die Zerstörung, die das Wasser anrichtet, nicht mehr zu kontrollieren“, sagte er in dem Interview. „Sie richtet sich nicht nur gegen Kombattanten, sie richtet sich dann auch gegen Zivilisten.“ (mit Agenturen)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false