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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) besucht im Rahmen seiner Sommerreise durch den Wahlkreis die Filmstudios Babelsberg.

© dpa/Kay Nietfeld

„Taurus“-Raketen für die Ukraine?: Scholz verteidigt ein gefallenes Tabu

Der Kanzler verzögert erneut eine Waffenlieferung und verweist auf das Risiko einer Eskalation. Dabei erlauben Deutschland und die USA der Ukraine längst Angriffe in Russland.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

In diesen Tagen tritt ein Kanzler mit zwei Gesichtern auf. Der eine Olaf Scholz zögert erneut, ob Deutschland ein Waffensystem liefern soll, um das die Ukraine bittet: „Taurus“-Marschflugkörper. Ihn treibe die Sorge vor einer Eskalation um, sagt er.

Der andere Olaf Scholz weiß, dass sich die Kriegsführung im Vergleich zum Sommer 2022 dramatisch gewandelt hat. Zum Teil rückwärtsgewandt: Ein Teil der Kämpfe tobt jetzt in schwer befestigten Verteidigungsgräben wie im Ersten Weltkrieg.

Zum Teil vorwärtsgewandt: Die Ukraine hat heute moderne Distanzwaffen wie Drohnen und Raketen mit hoher Reichweite, dazu Marschflugkörper aus den USA, Frankreich und Großbritannien. Freilich bei weitem nicht genug.

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Die Ukraine greift längst Ziele in Russland an

Die Ausweitung der Kriegsführung, die Scholz angeblich fürchtet, gehört bereits zum Kriegsalltag. Kiew beschränkt sich nicht mehr darauf, das eigene Territorium zu verteidigen und besetzte Gebiete zurückzuerobern.

Die Ukraine greift Nachschublager in Russland an. Sie beschießt die Provinzhauptstadt Belgorod 40 Kilometer jenseits der Grenze, Ziele in Moskau und russische Öltanker im Schwarzen Meer. Sie zerstört die Verbindungsbrücken vom russischen Festland auf die besetzte Krim bei Kertsch.

Es ist nicht bekannt, dass der Kanzler Bedenken erhoben und gewarnt hat, dass amerikanische, britische, französische Marschflugkörper oder Kiews neue Kriegsführung eine Eskalation auslösen können. Warum sollte das für „Taurus“ gelten? Joe Biden, Emmanuel Macron, Rishi Sunak und andere haben die Ausweitung der Kriegszone abgesegnet.

Eskalationsrisiko ist 2023 geringer als 2022

2022 war das noch anders. Wladimir Putin drohte immer wieder mit Eskalation. Der Westen agierte vorsichtig. Die Erfahrung aus 18 Kriegsmonaten hat jedoch gezeigt: Putin eskaliert die Brutalität gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, legt sich aber nicht militärisch mit der Nato an. So lebensmüde ist er nicht.

Der Westen wiederum macht klar: Er unterstützt die Ukraine bei der Befreiung ihrer Gebiete; dazu gehören Angriffe auf russischen Nachschub. Die Eroberung russischen Bodens hingegen bleibt tabu.

Wie passen dann die zwei Olafe zusammen? Der Eine möchte ein verlässlicher Alliierter sein, der Andere seinen innenpolitischen Rückhalt verbessern. Die Umfragewerte für Scholz und seine SPD sind schwach. Ein Thema, bei dem er Rückhalt unter Wählern findet, ist der vorsichtige Kurs bei deutschen Waffenlieferungen. Seine innenpolitische Stellung ist ihm im Zweifel wichtiger als sein Ruf als Verbündeter.

Scholz gegen Grüne und FDP

Deshalb stellt sich Scholz abermals gegen seine grünen und liberalen Koalitionspartner. Christian Lindner, FDP-Chef und zweiter Vizekanzler nach Robert Habeck, äußerte am Montag in Kiew Sympathie für die „Taurus“-Lieferung und versprach eine schnelle Entscheidung. Das fordern auch Verteidigungsexperten der Grünen und der Union.

Scholz kontert, er werde sich nicht treiben lassen. Er wolle, erstens, sicherstellen, dass die „Taurus“ nicht auf russischem Gebiet eingesetzt werden. Und, zweitens, prüfen lassen, ob man die Reichweite der Waffe begrenzen könne.

Das erste Ziel ist legitim. Deutschland darf Auflagen machen, wie und wo Waffen, die es liefert, eingesetzt werden. Das zweite Ziel ist ein Vorwand. Scholz möchte offenbar Zeit gewinnen und die Rolle des umsichtigen Staatsmannes vor heimischem Publikum in die Länge ziehen.

Ginge es Scholz allein um die Bedingung für die „Taurus“-Lieferung – kein Einsatz auf russischem Gebiet –, ließe sich das rasch klären. Die Ukraine würde es versprechen. Und gewiss auch einhalten. Es wäre selbstmörderisch, wenn ein Land, das in so hohem Maß auf westliche Hilfe angewiesen ist, einen zentralen Unterstützer wie Deutschland durch Wortbruch verärgert.

Die Prüfung der Reichweitenbegrenzung dauert. Ein technischer Umbau der „Taurus“ würde noch mehr Zeit kosten. Am Ende würde Deutschland wohl liefern – aber mit erheblicher Verzögerung. Und den Ruf bestätigen, den es sich schon mit der Verschleppung der Lieferung von Kampfpanzern, Luftabwehr und anderen Systemen eingehandelt hat.  

Militärexperten argumentieren, die Ukraine brauche das Waffensystem rasch, um den Nachschub der russischen Truppen zu treffen. Umso eher könne sie die Verteidigungslinien im besetzten Gebiet durchbrechen und schwere Verluste im mörderischen Grabenkrieg vermeiden.

Falls Olaf Scholz die Sorge vor Eskalation umtreibt, täte er gut daran, das überzeugender zu begründen. Oder er sagt die Lieferung von „Taurus“ rasch zu – unter der Auflage, sie nicht gegen russisches Gebiet einzusetzen.

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